Ladas Klassikwelt 79: Android als Schlagzeuger, fantastisches Orchester und "Harmonie der Sphären"

Ladas Klassikwelt 79: Android als Schlagzeuger, fantastisches Orchester und „Harmonie der Sphären“

»Die Klarinette nicht düdurüduwüdudüdudümm, sondern diduriduwidubidupihm! Das sind keine Schnörkel aus Zuckerguß, mein Herr, das ist vivace, aber kein MOLTO vivace, oder habt Ihr ein taubes Gehör? Und dann geht es weiter trillitrullifrulliframm, das sind keine fioretti, der Einsatz muß weich kommen, bitte ganz weich, aber mit Stahl dahinter, nicht an der Oberfläche, sondern darunter! Hier also weich, dort aber hart! Und trilliripadadabrabbamm! He, ihr da, das Blech! Übertönt mir nicht die Piccoli in den Sechzehntel, ihr macht das Leitmotiv kaputt … «

von Jolanta Łada-Zielke

Könntet Ihr glauben, dass der Autor dieses Texts sagte, er sei „taub wie ein Pfosten“? Er mochte Beethovens Sinfonien, Jazz (besonders das Duo Ella Fitzgerald und Louis Armstrong) und die Beatles-Lieder, vor allem aus dem Film „Yellow Submarine“. Trotzdem hielt er sich für völlig unmusikalisch. Es ist kein anderer als Stanisław Lem, der weltberühmte Philosoph, Essayist und Science-Fiction-Autor polnischer Herkunft, dessen hundertster Geburtstag am Sonntag, 12. September 2021 war.

Das, was ich am Anfang zitiere, spricht ein Kapellmeister in der „Geschichte des ersten Entfrosteten“[1]. Darin hat Lem ein Orchester als Metapher des kommunistischen Systems dargestellt. Alle dortigen Musiker sollen „die Harmonie der Sphären“ erreichen, weil ihr Herrscher ein solches utopisches Ziel gesetzt hat. Die Instrumente sehen schön aus, erzeugen aber einen dumpfen Klang. Trotz dieses metaphorischen Kostüms kann man erkennen, dass sich der Autor mit der Struktur eines Orchesters gut auskannte; Er benennt professionell die Gruppen einzelner Instrumente, die Art der Klangerzeugung, die Begriffe von Tempi und Dynamik, er kennt sogar die Intervalle!

Lems Helden sind normalerweise die Außerirdischen. Hier ist es ein Android und Kunstschlagzeuger zugleich, der auf allem trommelt, was ihm unter die Schlagstöcke fällt. Er hat in vielen Kapellen an verschiedenen Orten des Universums gespielt, aber „ein unerfüllter Drang“ treibt ihn immer zu neuen künstlerischen Erfahrungen. Der Android sucht keinen Ruhm, sondern will sich nur in der Musik verlieren. Also sehnt er sich nach einem idealen Orchester „wie der Strom nach dem Ozean, um in seiner Uferlosigkeit aufzugehen“. Von solchen Dingen träumen auch irdische Musiker.

Einmal erfuhr der Schlagzeuger von einem philharmonischen Staat Hafnium, wo ein musikalischer König herrscht. Eigentlich ist das kein gewöhnlicher König, sondern ein „Tönig“. Seine Untertanen streben durch gemeinsames Musizieren nach der „Harmonie der Sphären“. Der Schlagzeuger macht sich auf den Weg nach Hafnium mit der Hoffnung, dort seine Träume verwirklichen zu können. Aber je näher er kommt, desto widersprüchlichere Meinungen hört er über diesen Staat. Manche sagen voller Enthusiasmus, dass dort die Musik entstehe, die „die Person mit der Natur verschmilzt und das irdische Paradies schafft“ (wie die Kommunisten allen ein Paradies auf der Erde versprachen). Ein Greis sagte ihm, dass dort zwar alle spielten, aber daraus keine richtige Musik komme. Der Android bekommt auch einen seltsamen Rat: Wenn ihm etwas Verdächtiges oder Schlimmes auffällt, soll er kein Wort dazu sagen, nur schweigen und alles beobachten (es riecht schon nach einem totalitären Regime).

Die Aufnahme des Schlagzeugers ins Orchester erfolgt ohne Probleme, der Kapellmeister begrüßt ihn und zeigt ihm seinen Platz. Der Android ist zunächst beeindruckt von seinem neuen Instrument: „Die Seiten prall und rund, weiblich-jungfräulich, azurblau, Borte, mit goldenem Eichenlaub bestickt. Und erst das Fell! Tadellos, straff gespannt, voll Klang und Drang, ein Schlag darauf mußte dröhnen wie Donnerschlag!“

Als das Orchester zu spielen anfängt, stellt sich heraus, dass alle Instrumente gedämpft sind und nicht erklingen; auch diese tolle Trommel. Der Kapellmeister tadelt unermüdlich: „Was für eine Unordnung! Das soll Musik sein?! Spielen, spielen, und der Tönig wird erwachen! Wie wird es uns dann erst ergehen! Als Skalpellmeister Dirigentissimus stelle ich Forderungen, mahne und wiederhole: Wir spielen das Ouverturale Symphonium der Stille! Silentissime, allegro vivace, dann weiter con brio, aber auch piano, pianissimo, denn chi va piano, va sano!“

Dann läuft der Leiter durchs Orchester und verteilt an die Musiker Pfefferminzbonbons. Mit dem Bonbon bekommt jeder einen Schlag mit dem Taktstock auf den Kopf. Übrigens ist der Dirigentenstab so dick wie ein Miliz-Schlagstock. Ähnlich absurde Szenen findet man in den Romanen von Kafka und Orwell.

Bei der Besprechung fasst der Rassel-Spieler (im Original: der Glöckner) seinen ganzen Mut und weist alle darauf hin, dass die Instrumente defekt sind: „Ich stelle daher den Antrag, sie ins Museum zu bringen oder zu verschrotten, uns aber ECHTE zu geben!“

Der Kapell- oder „Skalpellmeister“ ist tief empört und beschimpft den rebellischen Musiker. Dann ordnet er eine Pause an, nach der er nicht zurückkommt, weil er in den Ruhestand geschickt wird. Die Instrumente werden jedoch durch bessere ersetzt. Schließlich kommt der Tönig selbst aus seiner Loge, um den Probenverlauf zu kontrollieren.

Aber von dem „Skapellmeister“ gehänselt zu werden, ist nicht das Schlimmste, was den Musikern passieren kann. Das Orchester wird die ganze Zeit von einem King-Kong-ähnlichen Monster überwacht. Zuerst sitzt es in einem riesigen Schrank, dann kommt es heraus und fängt an, die Musiker zu fangen und verschlingen. Das Ungeheuer tut dies sogar während eines Galakonzerts. Doch es wählt seine Opfer nicht zufällig aus, sondern nach einer speziellen Liste. Als Ersten frisst er den Rassel-Spieler, der sich kritisch über die Instrumente geäußert hat. Der Schlagzeuger nennt das Monster in Gedanken „das Gorillium“:

„Die Geige wimmerte, das Waldhorn heulte, die Posaunen fielen vom Dödeluindödelum ins Blöblödelum, direkt vor mir aber machte eine schwarz­ behaarte Pfote »Zapp«, der Kontrabassist ist weg, obgleich er immer so achtsam und wachsam war! Was für Musik kann herauskommen, da wir alle nur Zutaten für ein kaltes Büfett waren und der Tönig-umfächelt, umlächelt  in der geschmückten Loge saß und durch die Zähne preßte: »Noch nicht die Musik, wie sie sein soll! Noch fehlt es an Glauben, Wahrheit, Hoffnung, Liebe! An Harmonischer Melodei der Zeitenläufte! Auf denn, vorwärts, kühn und munter!“

Der Schlagzeuger hält es nicht mehr aus und bricht das politisch-korrekte Schweigen. Er wendet sich direkt dem Gorillium zu und sagt ihm öffentlich, dass das Monster hier unerwünscht sei, weil es das Streben nach der Harmonie der Sphären störe. Das Gorillium reagiert darauf überempfindlich und manipulativ zugleich. Es fängt an zu weinen und droht, seinen Dienst beim Tönig zu verlassen. Der Herrscher versucht ihn um jeden Preis aufzuhalten und verspricht, diesen unverschämten „Lausetrommler“ hart zu bestrafen.

Das weitere Schicksal des Kunstschlagzeugers ist nicht zu beneiden. Wer will, kann das alles aus „Die Geschichte des ersten Entfrosteten“ erfahren.

In einem Interview im Jahr 2000 erzählte Stanisław Lem davon, wie er die kommunistische Zensur umging, indem er ähnliche Metaphern verwendete: „Damals schrieb man über solche Dinge mit Schaum auf den Lippen und mit Gift im Herzen, und heute liest es sich wie ein gewöhnliches Märchen“. Man kann hinzufügen: ein meisterhaftes Märchen. Ich habe Tränen dabei gelacht, sowohl die polnische Originalversion dieser Geschichte als auch die deutschsprachige zu lesen. Also Respekt und großes Chapeau Bas für Hubert Schumann, den Übersetzer von Lems schwieriger Prosa, voller Neologismen und Wortspiele!

Ich bin gespannt, was Orchestermusiker dazu sagen würden.

Jolanta Łada-Zielke, 13. September 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

[1] Diese Kurzgeschichte befindet sich im Band „Vom Nutzen des Drachen“, Insel Verlag; 1. Edition (26. September 1990) von Hubert Schumann ins Deutsche übersetzt. Das Original auf Polnisch gehört zu dem Zyklus „Kyberiade“.

Titelfoto: Stanisław Lem, 1966, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11689

Buchbesprechung „Die Mondscheinsonate“ von Doris Eisenburger klassik-begeistert.de

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert