Ich bin vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten, aber wenn ich Musik von Bruckner höre, empfinde ich so etwas wie Göttlichkeit. Noch zu meiner Studienzeit hätte ich nicht in Worte fassen können, warum das so ist. Ich war einfach nur emotional berührt von all den herrlichen Themen, die sich durch Bruckners Sinfonien ziehen, gepackt von der aufwühlenden Dramatik, der großen Feierlichkeit, den weihevollen Bläserchören und den imposanten Gipfelstürmen.
von Kirsten Liese
Als ich anfing, mich mit dem genialen Brucknerdirigenten Sergiu Celibidache zu beschäftigen und alles zu wissen begehrte, was er über den Spätromantiker und seine bahnbrechenden Werke zu sagen hatte, wurde mir meine Faszination bewusster. „Was du an Bruckner schätzt, ist nicht seine ‚Musik‘, sondern, was seine Klänge in dir hinterlassen, was absolut nicht fassbar, nicht zu definieren ist“, sagte Celi. Und: „Am Ende einer Bruckner-Symphonie erleben wir ein Gefühl der Vollkommenheit – das Gefühl, durch alles gegangen zu sein“, schließlich ist „niemand soweit wie Bruckner mit seiner klangbezogenen Korrelationsfähigkeit in den Kosmos eingedrungen“. Zwar tun sich zwischen gewaltigen Fortissimo-Klängen auch immer wieder Abgründe auf, wendet sich die Musik nach kraftvollen Passagen in tiefe Depression und Weltschmerz, aber in den finalen Apotheosen siegt immer die Hoffnung auf eine andere Welt und Rettung.
So gesehen war ich ziemlich fassungslos, als noch in den 1990er Jahren ein Berliner Kritiker Bruckners Sinfonik in einer großen Tageszeitung als faschistisch bezeichnete. Er hatte wohl leider nicht das Geringste begriffen, war aber nicht der einzige, dem Bruckners Musik mit ihrer Erhabenheit, Größe und Weite suspekt erschien.
Dagegen standen lange Zeit die Produktionen des Regisseurs Jan Schmidt-Garré, der mit seiner Dokumentation „Celibidache – Man will nichts, man lässt es entstehen,“ und seinem filmischen Essay „Bruckners Entscheidung“ verdienstvolle Beiträge dazu leistete, das falsche Bild des 1824 in Ansfelden geborenen Oberösterreichers zurechtzurücken
Am 23. Juli kommt nun ein weiterer Dokumentarfilm von Reiner E. Moritz mit ganz ähnlicher Zielsetzung ins Kino. Die Bruckner-Biografin Elisabeth Meier schlüsselt darin auf, dass – wiewohl Bruckner und Hitler oberösterreichischer Herkunft waren und Richard Wagner tief verehrten – Hitler und Nazi-Ideologen Bruckner falsch verstanden und missbrauchten. Zudem seien unter jungen Studenten sehr viele Deutschnationale gewesen, die Bruckner als „österreichischen Wagner auf ihren Schild gehoben“ hätten, so dass Bruckner unverschuldet in eine ideologische Auseinandersetzung hineingeriet.
Darüber hinaus beleuchtet der Film „Anton Bruckner – Das verkannte Genie“ akribisch Leben und Werk des Komponisten, verschenkt aber mit einem etwas altmodischen Charme die Chance, junge Menschen auf den „größten Symphoniker aller Zeiten“ (Celibidache) neugierig zu stimmen. Dies vor allem auch deshalb, weil nur wenige der vor der Kamera versammelten sprechenden Köpfe sich als charismatische Erzähler empfehlen.
Mir liegt es fern, den Film schlecht zu reden, es ist eine kleine sachlich fundierte und damit allein schon verdienstvolle Produktion, die der Musik viel Raum gibt und sich damit gegen die verbreitete anspruchslose Häppchenkost positioniert.
Und doch stoßen mir einige Merkwürdigkeiten auf, die mich angesichts eines Regisseurs, der noch Celibidache als Brucknerdirigenten live erlebte und ihn bei der Aufzeichnung zweier Konzerte mit der Kamera begleitete, befremden: Der Film enthält nicht ein einziges Statement von Celi, der so weise über Bruckner reden konnte wie kein zweiter. Auch andere so profilierte Brucknerinterpreten wie allen voran Christian Thielemann kommen in der Doku nicht vor.
Stattdessen hat sich Moritz auf Valery Gergiev festgelegt. Der ist am Pult der Münchner Philharmoniker mit einem Brucknerzyklus in der prächtigen barocken Basilika Sankt Florian zu erleben, wo Bruckner seine musikalischen Anfänge als Chorknabe hatte und unter der Orgel begraben wurde. Ich sehe zwar Gergiev beim Dirigieren nicht so gerne zu, weil ich mich an seiner rechten Zitterhand etwas störe, aber zumindest kann sich sein Bruckner, soweit nach den gewählten Ausschnitten zu urteilen, hören lassen.
Die knappen Statements, mit denen Gergiev zu Wort kommt, wirken allerdings wenig ergiebig, und ein bisschen hat es den Anschein, als müsse Kent Nagano, der an dem Film auch mitgewirkt hat, das mit seinen klugen Analysen kompensieren. Nur schade, dass Nagano nicht mit einer einzigen musikalischen Kostprobe zu erleben ist, seine Ausführungen legen sich stets nur aus dem Off über Gergievs Interpretationen. Das irritiert und erscheint nicht ganz fair. Und dann frage ich mich, warum mit Simon Rattle noch ein dritter Dirigent in den Film eingebracht wird, der aber nur mit einem einzigen Statement zu Wort kommt?
Wissenswert und aufschlussreich ist die Doku trotzdem. Ich werde sie mir vielleicht sogar noch ein zweites Mal anschauen, weil man beim ersten Sehen gar nicht alle Einzelheiten aufnehmen kann. Vor allem aber haben die musikalischen Ausschnitte wieder meinen Bruckner-Durst geweckt, so dass ich den Tag herbei sehne, an dem seine Sinfonien wieder in voller Besetzung aufgeführt werden können.
Kirsten Liese, 16. Juli 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .