Lieses Klassikwelt 62: Von Sammlern, Minimalisten und kuriosen Erinnerungen

Lieses Klassikwelt 62: Von Sammlern, Minimalisten und kuriosen Erinnerungen

„Wird die Sesshaftigkeit wieder populärer und verändert sich darüber erneut die Einstellung zum Eigentum? Vor langer Zeit war es einmal so, dass, wer viel besaß, als reich galt, wozu freilich auch Kunst, Musikinstrumente, Möbel, Schmuck oder Antiquitäten zählten. Zeitweise schien sich das geändert zu haben.“

von Kirsten Liese

Viele nutzen die Lockdown-Zeiten, um auszumisten und Dinge zu ordnen. Und mit vielen dieser Objekte, die man nochmal in die Hand nimmt oder ausrangiert, verbinden sich Erinnerungen, schöne und weniger schöne, lustige und traurige. Im Laufe von Jahren hat sich in so manchen Haushalten allerhand angesammelt, allein an Büchern, Tonaufnahmen, Videos oder Katalogen. Allerdings trifft man in jüngeren Generationen auch zunehmend auf Leute, die sich besser fühlen, wenn sie wenig besitzen, ihre Bücher – einmal gelesen – weiterreichen oder verschenken. Oder von vornherein nur noch Ebooks lesen.

Unweigerlich kommt mir dazu ein hochspannender Dokumentarfilm in den Sinn, den ich 2018 auf dem Dokfilmfest in Leipzig entdeckte: Keeping & Saving aus den Niederlanden, bis heute scheinbar leider ohne einen deutschen Verleih.

Die Autorin dieser Produktion, Digna Sinke, beschäftigt sich höchst anregend mit den Motiven, die Menschen zu Sammlern oder Minimalisten machen und entwirft darüber sogar ein generationenübergreifendes Gesellschaftspanorama. Im Zentrum steht ihre Großmutter, die liebevoll vieles von ihrer Familie aufgehoben und in Ehren gehalten hat, was ihre Erinnerung wach hält: Fotoalben, Reisetagebücher, Textilien, Knöpfe, Pappfigürchen, mit denen die Kinder spielten und Unmengen Souvenirs. Sie steht beispielhaft dafür, dass nicht unweigerlich jeder, der hortet, ein Messie ist.

Den Minimalisten im Film bedeutet die Vergangenheit wenig, für sie zählt in erster Linie nur die Gegenwart. Was ihnen wichtig erscheint, speichern sie auf der Festplatte ihres Rechners. So fühlen sie sich freier und beweglicher, da sie ohne großen Aufwand jederzeit ihren Standort verändern können, dies auch als Reaktion auf den akuten Mangel an Wohnraum. Im Extremfall passt ihre Habe in einen Rucksack.

Zumindest war das vor Corona so, im Zuge der aktuellen Reisebeschränkungen und Quarantäne-Bestimmungen dürfte wohl auch das unbeschwerte Nomadenleben an seine Grenzen kommen. Zwingt Corona die Menschen nun zu einem erneuten Wandel ihres Lebensstils? Wird die Sesshaftigkeit wieder populärer und verändert sich darüber erneut die Einstellung zum Eigentum? Vor langer Zeit war es einmal so, dass, wer viel besaß, als reich galt, wozu freilich auch Kunst, Musikinstrumente, Möbel, Schmuck oder Antiquitäten zählten. Zeitweise schien sich das geändert zu haben.

Die Doku von Sinke, die außerhalb des Festivals leider kaum Beachtung erfahren hat, wirft spannende Fragen auf, die solche soziokulturellen Aspekte umfassen.

James King, Autogrammkarte von Kirsten Liese

Ich käme wohl sehr in die Bredouille, wenn ich mich verkleinern – und von Dingen, die mir teuer sind, trennen müsste. Alleine schon für meine geheiligte Bibliothek benötige ich viel Platz. Digitalisierte Literatur ist meine Sache nicht. Der Duft des Papiers, die Aufmachung eines Buches, auch das Blättern darin gehören für mich zum Lesegenuss dazu. Daneben finden sich in meinen Regalen viele Objekte, die sich mit kostbaren Erinnerungen verbinden: meine Sammlung mit Künstlerautogrammen zum Beispiel aus meiner Jugendzeit. Zu jedem einzelnen signierten Foto gibt es eine Geschichte. Ein paar Mal brachte ich es sogar fertig, in einer Vorstellungspause in der Deutschen Oper Berlin mit einem Blumenstrauß hinter die Bühne zu gehen und an der Garderobe so berühmter Künstler wie Fischer-Dieskau oder Leonie Rysanek anzuklopfen, was mir heute nicht in den Sinn kommen würde. Tatsächlich haben sie persönlich die Tür geöffnet und reagierten überraschend freundlich.

Aber ich kann und will nicht alles aufheben. Für Tausende von Presseheften, die sich über Jahrzehnte in meinem Filmarchiv angestaut haben, reichen meine Kapazitäten nicht aus und ich habe keine Erben, denen ein solcher Nachlass nach meinem Tod Freude bereiten würde. Deshalb habe ich die schönsten ausgewählt und die übrigen weggegeben. Heute gibt es solche Pressehefte gar nicht mehr, alles nur noch digital. Erinnerungsstücke an den Luxus vor 20 Jahren sind in meinem Archiv vor allem aber Hunderte von Foto-Abzügen in Schwarzweiß im Postkartenformat, die Kinoverleiher damals der Presse zur Verfügung stellten, teils auch Dias und kleine Tonkassetten mit Auszügen für Radiojournalisten. Und was gab es in dieser Ära noch für fantasievolle, edle und nützliche Werbegeschenke! Das vielleicht schönste in meiner Sammlung ist ein Schmucketui in Gestalt einer roten, aufklappbaren Kunstrose.

Unlängst habe ich in einer Kiste, in der sich Fotos aus mehreren hundert Filmen befinden, geschmökert, weil ich ein bestimmtes Motiv suchte. Bei der Gelegenheit stellte ich erschrocken fest, dass ich mich nur noch an einige wenige dieser Filme erinnerte. Obwohl ich die meisten sogar rezensiert hatte, konnte ich aus meinem Gedächtnis nichts mehr abrufen, noch nicht einmal die Handlung. Es mag daran gelegen haben, dass es einfach zu viele Filme waren. Einen derart großen Speicher stellt das Gedächtnis wohl nicht zur Verfügung.

Gwyneth Jones als Sieglinde

Überhaupt ist das Gehirn ja zu (Fehl)-Leistungen in der Lage, die man gar nicht für möglich halten würde. Ist Ihnen das auch schon mal passiert: Sie sehen etwas noch ganz genau vor dem inneren Auge und dann stellt sich heraus, Sie haben sich das nur eingebildet. Ein solches Erlebnis hatte ich vor einigen Jahren, als ich an meinem Buch „Wagnerheldinnen“ schrieb und einer Szene wegen das Video mit der Walküre aus dem von Patrice Chéreau inszenierten Jahrhundert-Ring noch einmal schaute. Ich hätte schwören können, dass sich im dritten Akt eine Sequenz befindet, in der Gwyneth Jones und Donald McIntyre nebeneinander sitzen und Jones kurz vor Wotans Abschied Tränen über die Wangen laufen. Aber was soll ich Ihnen sagen: Einen solchen Moment gibt es gar nicht. Ich konnte das nicht fassen, spulte vor und zurück, dann wieder vor, schaute nochmal ganz genau hin, um dann aber doch zum Ergebnis zu kommen, dass ich mir das wohl eingebildet haben muss.

Noch bizarrer erscheint die Episode, wenn ich bedenke, dass ich Dame Gwyneth in einem Interview ein paar Jahre zuvor dazu befragte, ob die Tränen zur Inszenierung gehörten. Die Frage schien sie nicht zu irritieren. Jedenfalls entgegnete sie, das sei eine spontane Reaktion gewesen. Ich habe mir das Interview nochmal angehört, das hat sie tatsächlich gesagt, da hat mich mein Gedächtnis nicht im Stich gelassen. Merkwürd‘ger Fall.

Wenn mir der altersschwache Krapp in Becketts Einpersonenstück Das letzte Band in den Sinn kommt, der wieder und wieder seiner eigenen Stimme aus lang zurückliegenden Zeiten auf seinen Tonbändern nachlauscht wie einer fremden Person, denke ich, soweit darf es nicht kommen.

Deshalb nehme ich mir meinen Koffer mit Hunderten alter Audiokassetten demnächst vor, um mich von den meisten zu befreien. Zuvor höre ich mir die Aufnahmen ein letztes Mal an, gespannt auf die Zeitreise, die sich damit verbindet.

Kirsten Liese, 20. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Lieses Klassikwelt 57: Catarina Ligendza

Lieses Klassikwelt 61: James King klassik-begeistert.de

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© Kirsten Liese

Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz,  Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .

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