Wagners „Fliegender Holländer“ an der Staatsoper Hamburg.
Foto: © Brinkhoff/Mögenburg
Birgit Nilsson, Mirella Freni, Edita Gruberova, Plácido Domingo, Luciano Pavarotti: Der Hamburger Mediziner und Klassik-Connaisseur Dr. Ralf Wegner hat die großen Weltstars der Opernwelt seit Ende der 1960er-Jahre alle live erleben dürfen: vor allem in der Staatsoper Hamburg, die in den 1970er-Jahren noch zu den weltbesten Opernhäusern zählte und sich heute um Anschluss an die deutsche und europäische Spitze bemüht. Begeben Sie sich in ein wunderbares Stück Operngeschichte und reisen Sie mit in eine Zeit, die scheinbar vergangen ist.
von Ralf Wegner
Wagners Fliegenden Holländer habe ich seit 1965 zwanzigmal sehen können, immer nur in der Hamburgischen Staatsoper, und nur in zwei Inszenierungen, von Wieland Wagner und seit 1996 unverändert in der ohne Pause gespielten Fassung von Marco Arturo Marelli.
Marelli lässt realistischer spielen. Bereits während der Ouvertüre wird des Holländers Jugend gezeigt. Ein etwa 12-jähriger Junge, der von der Mutter wegen ihres Liebhabers vor die Tür gesetzt wird, reißt aus und geht zur See. Der „neue“ Holländer ist szenisch nicht schlecht, aber im Vergleich mit der Wieland-Wagner-Version weniger packend. Man vermisst die totenähnlich gekleidete Mannschaft des Holländers, die im dritten Aufzug aus dem tiefer gelegten Bühnenhintergrund emporstieg und die Norweger verjagt. Das war gespenstisch, hochromantisch und besonders für Kinder geeignet.
Meine Tochter, die mit den Enkelkindern im Holländer war, teilte mir ihre Enttäuschung wegen des Fehlens der schauererregenden Holländer mit. Sie hatte ihre Kinder mit dieser Szene in die Oper gelockt und war hinterher bedrängt worden, wo denn die gruseligen Seeleute geblieben seien. Dabei war es nicht die erste Marelli-Aufführung, die sie sah. Vielmehr hatte sich der dritte Aufzug der Wieland Wagner-Inszenierung so in ihr Gedächtnis gebrannt, dass Marellis Lösung in die Hirnregionen des Vergessens gebannt wurde.
Richard Wagner, Der fliegende Holländer, Weinviertler Festspiele, 14. August 2020
Mit dem Holländer fängt man an, in die Wagnersche Musikwelt einzudringen. Ich erinnere mich auch noch genau an den Tag, als meine damals 10-jährige Tochter den Text dieser Oper im Klavierauzug mitlas, während ich ihr den gesamten Holländer auf den Plattenspieler legte. Es war eine Aufnahme unter Otto Klemperer mit Theo Adam als Holländer und Anja Silja als Senta. Diese beiden Protagonisten hatte ich 1966 in der Oper gehört und war hellauf begeistert, vor allem von dem Stimmstrahl der erst 26 Jahre alten Sopranistin. Arnold van Mill sang Daland, Ernst Kozub den Jäger Erik.
Die anderen Aufführungen waren anfangs nicht so gut besetzt. Eine Ausnahme war stets Kurt Moll, der zwischen 1973 und 1998 die Partie des Daland zu einem Erlebnis werden ließ. Nach ihm übernahm sein Schüler, der mit einem profunden balsamischen Bass gesegnete Simon Yang, den Daland, allerdings nur für kurze Zeit. Er scheint relativ schnell nach Südkorea zurückgekehrt zu sein. Zumindest war er dort 2019 als Sarastro einer Zauberflötenaufführung gelistet worden.
Ein weiterer guter Daland soll erwähnt werden: Günther Groissböck, der 2018 mit seinem schallstarken, in allen Lagen volltönenden Bass sicher über dem Orchester lag. In derselben Aufführung sang Daniel Behle einen schönstimmigen, deutlich artikulierenden und auch darstellerisch überzeugenden Erik. Häufiger erlebte ich den Sänger des Erik als Schwachpunkt einer Holländeraufführung; Ausnahmen waren Robert Schunk (1985), Heinz Kruse (196-1998), Alfons Eberz (1997) und Andreas Schager (2016).
Richard Wagner, Der fliegende Holländer, Hamburgische Staatsoper, 21. Februar 2020
Wagners Holländer hängt ja im ersten Aufzug etwas durch, zumindest empfand ich es so in jungen Jahren. Es dauert eine Zeit, bis der Monolog „Die Frist ist um“ als packend erlebt wird. An diesem Monolog scheiden sich die guten von den nicht so guten Sängern des Holländer. Franz Grundheber war ein wahrer Meister in der gesanglichen Gestaltung der inneren Zerrissenheit dieses Seefahrers, er hatte selbst im vorgerückten Lebensalter von 72 Jahren immer noch die notwendige, nicht Altersvibrato-getrübte Stimmkraft sowie die ihm eigene Stimmschönheit und gesangliche Dynamik, um diese Rolle zu einem unvergesslichen Erlebnis werden zu lassen. Seinen ersten Holländer hörten wir 1996, seinen letzten 2009.
Auch Simon Estes (1986-2002) muss als Holländer erwähnt werden, ebenso José van Dam, der 1988 zusammen mit Hildegard Behrens ein Operntraumpaar bildete, oder John Lundgren, der 2018 den Holländer mit strahlkräftiger Stimme und Glanz in der Höhe sang. Neben den genannten Sopranistinnen Silja und Behrens sangen auch Gwyneth Jones (1985) und Ingrid Bjoner (1986) die Senta, beide allerdings nicht mehr in ihrer ehemaligen Hochform. Als Elsa ragte Elisabeth Connell heraus, mehr noch 1988 als 2002. 1996 und 1997 reüssierten Gabriela Benackova und Sabine Hass, 2003 Inga Nielsen als Senta. 2005 wagte sich Hellen Kwon an die Senta und überzeugte mit ihrer fast vibratofreien, gut fokussierten Stimme, Terje Stensvold war ihr Holländer. Der Sopranistin gelang es, im Duett mit dem Holländer im zweiten Aufzug einen fast italienischen, an Verdi erinnernden Klangteppich herbeizuzaubern. Die letzte, wirklich ausgezeichnete Senta hörte ich 2011, es war Adrianne Pieczonka.
Unsere Lieblingsoper (44): „Pelléas et Mélisande“ von Claude Debussy
Der Holländer hat noch zwei Nebenrollen, den Steuermann und die Mary. Dem Steuermann gönnte Wagner einige schöne Szenen, er kargte dagegen an der Mary. Letztere wird daher häufig nicht mit noch auf der Höhe ihres Könnens stehenden Sängerinnen besetzt; Ausnahmen waren Hanna Schwarz (1973) und Yvi Jänicke (1998, 2003). Bevor er zum Heldentenor wurde, sang Heinz Kruse die leichteren Tenorpartien, so auch den Steuermann (1981), Gerhard Unger war 1967 gut in dieser Partie. Mit Dovlet Nurgeldiyev gab es zudem 2009 und 2016 eine Luxusbesetzung.
Bei der Durchsicht der alten Besetzungszettel fällt ins Auge, dass die jeweiligen Generalmusikdirektoren eigentlich nie den Fliegenden Holländer dirigierten, mit Ausnahme von Leopold Ludwig in den 1960er Jahren. Anscheinend ist diese Oper musikalisch nicht so anspruchsvoll, sie spielt sich offenbar wie von selbst. Und wenn, wie in der Marelli-Inszenierung, während der Ouvertüre auf der Bühne noch szenische Darstellungen die Sinne in Anspruch nehmen, tritt die Orchesterleistung noch weiter in den Hintergrund.
Ralf Wegner, 10. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
…mein Vater erzählte mir von seinem ersten „Holländer“ in BT. Meine Großmutter war nach der Ouvertüre sanft eingeschlafen. Bis zum Ankern des Holländer-Schiffs…..
Und dann kam George London. Von ihm sprach mein Vater immer in größter Bewunderung. Selbst Bass-Bariton, hat ihn dieser Jahrhundert-Sänger derart beeindruckt, daß ich später das nachvollziehen wollte. Es gelingt auch heute noch mit Leichtigkeit! Eine derartige Stimme, ein Rollenprofil, das heute keinem Bass-Bariton zur Verfügung steht, vom Amonasro bis zum Amfortas, vom Don Giovanni bis zum Boris Godunow, vom Mandryka bis zum Wotan. Bei aller Hochachtung für die vielen guten und ausgezeichneten Sänger dieser Welt, George London wird auch als „Holländer“ unerreicht bleiben.
Freundliche Grüße
Konrad Messerer