Hamburgische Staatsoper: Fidelio (Inszenierung Georges Delnon): Falk Struckmann (Rocco) und Simone Schneider (Leonore) Foto: Arno Declair
Birgit Nilsson, Mirella Freni, Edita Gruberova, Plácido Domingo, Luciano Pavarotti: Der Hamburger Mediziner und Klassik-Connaisseur Dr. Ralf Wegner hat die großen Weltstars der Opernwelt seit Ende der 1960er-Jahre alle live erleben dürfen: vor allem in der Staatsoper Hamburg, die in den 1970er-Jahren noch zu den weltbesten Opernhäusern zählte und sich heute um Anschluss an die deutsche und europäische Spitze bemüht. Begeben Sie sich in ein wunderbares Stück Operngeschichte und reisen Sie mit in eine Zeit, die scheinbar vergangen ist.
von Ralf Wegner
Fidelio ist eine besondere Oper. Nicht nur wegen ihrer Einzigartigkeit in Beethovens Werk. Beim Durchblättern meiner alten Besetzungszettel fiel mir auf, wie häufig ich mit den gesanglichen Leistungen der Protagonisten nicht recht zufrieden war. Von 15 auf der Bühne gehörten Tenören waren nur 4 wirklich gut (James King, René Kollo, Heinz Kruse und Klaus Florian Vogt). Bei den 14 verschiedenen Leonoren sah es zwar besser aus (Inge Borkh, Gwyneth Jones 1969, Catarina Ligendza, Hildegard Behrens, Nadine Secunde, Sabine Hass, Simone Schneider); im Vergleich mit anderen Opern, vor allem den italienischen, besteht aber durchaus ein Missverhältnis.
Warum? Warum gehe ich wegen Beethovens Fidelio in die Oper, auch wenn die Besetzung suboptimal zu sein scheint? Es ist der in Töne gegossene Inhalt dieses schwierigen, in einem öden Gefängnis spielenden Werks. Es ist das hohe Lied von Hoffnung und der Opferbereitschaft eines Menschen für einen anderen, hier einer Frau für ihren Mann. Und zwar nach der Hochzeit, nicht vorher. Es ist die Geschichte einer bereits länger bestehenden Ehe, in der die Frau um das Leben ihres Mannes Willen ein hohes persönliches Risiko eingeht und nicht, wie sonst üblich, ein Mann seinen Heldenmut an einer zukünftigen Braut abarbeitet.
Inge Borkh beeindruckte mich 1969 in München sängerisch wie darstellerisch mit ihrer Leonore. Ich habe ihren dramatischen, seelenerschütternden Ausbruch beim „Töt erst sein Weib“ noch jetzt im Ohr. Das ist der Dreh- und Angelpunkt des Musikdramas. Pizarro, Rocco und Florestan wiederholen es „Sein Weib?, Sein Weib?, Mein Weib?“; Leonore: „Ja, sieh hier Leonore“; Florestan: „Leonore!“; und Leonore antwortet: „Ich bin sein Weib, geschworen hab ich ihm Trost, Verderben dir.“ Gibt es in der gesamten Opernliteratur irgendwo ein größeres Liebesbekenntnis?
Die Regisseure scheinen sich vor diesem Bekenntnis zu fürchten und lenken nicht selten auf anderes, vor allem Politisches ab. Interessant wäre in diesem Zusammenhang zu erfahren, wie hoch die Scheidungsquote unter ihnen ist. Für mich gehört auch die III. Leonorenouvertüre hinter das jubelnde „O namenlose Freude“. Dieses Musikstück entspricht einem Innehalten, einem Rückblick und gleichzeitig einer Vertiefung des eben in so kurzer Zeit Erlebten. Von der „namenlosen Freude“ übergangslos in das Finale zu wechseln, banalisiert gewissermaßen das vorausgegangene, von tiefem Leid zum höchsten Glück wechselnde Drama. Es hatte schon seinen plausiblen Grund, warum früher die III. Leonorenouvertüre gerade hier eingefügt wurde, auch wenn es von Beethoven primär nicht vorgesehen war.
Die Oper Fidelio beginnt mit dem Duett „Jetzt Schätzchen jetzt sind wir allein“ fast wie ein Lustspiel, gewinnt mit dem Quartett „Mir ist so wunderbar“ aber unvermittelt eine musikalische Tiefe, die bereits auf das spätere Drama hinweist. Roccos und Pizarros Arien „Hat man nicht auch Gold beineben“ sowie „Ha, welch ein Augenblick“ kratzen wieder mehr die Oberfläche, bis schließlich Leonore mit „Abscheulicher, wo eilst du hin“ –eine der schwierigsten dramatischen und in die Koloratur übergehenden Arien überhaupt zu singen hat.
An dieser Arie zeigt sich das Können der als Leonore besetzten Sängerin, genauso wie die des für den Florestan gewählten Tenors mit der Arie „Gott, welch Dunkel hier“. Beethoven gibt dem Tenor keine Zeit zum Einsingen, außerdem wenig Orchesterunterstützung. Manche Sänger beginnen deswegen wohl im Piano und schwellen bis zum Forte an (nicht nur Jonas Kaufmann, den ich mit dieser Arie im Rahmen eines eindrucksvollen Solokonzerts im Mai 2010 in der Hamburger Musikhalle – Laeiszhalle – hörte), in der Regel wird aber gleich im Forte begonnen (so ergibt sich das auch aus dem mir vorliegenden Klavierauszug). Besonders beeindruckte mich James King als Florestan, den ich zusammen mit Gwyneth Jones 1969 in Berlin unter Karl Böhm hörte. Als weiteres herausragendes Paar möchte ich René Kollo und Hildegard Behrens nennen, die Florestan und Leonore im Juni 1979 in Hamburg unter Christoph von Dohnanyi sangen.
Zum Rocco; gemeinhin wird an ihm viel herumgekrittelt. Ich meine damit nicht herausragende Sänger wie die von mir gehörten Bässe Kurt Böhme, Kurt Moll oder Matti Salminen, sondern die Person des Rocco. Was erwartet man von einem Kerkermeister? Mitleid und Einsatz für einen Gefangenen? Dann hätte er wohl den falschen Beruf gewählt. Rocco hat eine sichere Stellung gefunden und will diese nicht aufgeben. Trotzdem lässt er sich nicht, wie mancher andere es wohl getan hätte, als Mörder dingen und steht sofort auf Leonorens Seite, als die Gefahr vorüber ist. Denn eigentlich müsste er sich durch Leonorens Charade hintergangen fühlen. Im Herzen ist Rocco ein guter Mensch.
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Bedauernswert ist Marzelline (Melitta Muszely, Edith Mathis, Arlene Saunders, Katharina Konradi, um die besten zu benennen), die mit Fidelio alias Leonore möglicherweise auch der bürgerlichen Enge des Vaterhauses entfliehen wollte. Sie ist letztlich die Betrogene und wird wohl Jaquino (Gerhard Unger, Peter Haage, Kurt Streit), so ist zu vermuten, nicht mehr ehelichen wollen. Die Rolle des Pizarro (Hartmut Welker war sehr gut) ist undankbar, musikalisch erscheint sie auch eher eindimensional angelegt zu sein. Schließlich gibt es noch den Deus ex machina, Don Fernando. Von ihm ist balsamischer Wohlklang zu erwarten, über den Vladimir Ruzdak, Hans Sotin, Martti Talvela, René Pape und Jan Buchwald verfügten. Beethovens Fidelio ist zumeist Chefsache, neben den bereits erwähnten Dirigenten darf Horst Stein nicht vergessen werden, die Krone gebührte allerdings Karl Böhm.
Über die Inszenierungen gibt es weniger zu berichten. Eine wirklich schlüssige habe ich nicht gesehen. Die letzte stammt von Georges Delnon, der in meinen Augen zu Unrecht vernichtend kritisiert wurde. Wie schön interpretierten er, sein Bühnenbildner Kaspar Zwimpfer sowie FettFilm (Video, echt wirkender hoher Laubwald hinter den hohen Fenstern des großen Wohnraumes des Kerkermeisters) das Quartett im ersten Aufzug.
Mit diesem berührenden, von Marzelline eingeleiteten Gesangsstück durchbricht hier erstmals etwas tief Emotionales, ureigen Romantisches die bürgerliche Idylle von Roccos Stube. FettFilm fahren dabei das sich als Video herausstellende Waldbild nach vorn und an beiden Bühnenbildseiten vorbei, so dass der Eindruck entsteht, als ob sich dieser große Raum mit den vier Protagonisten (Marzelline, Leonore, Jaquino, Rocco) am Küchentisch in die Tiefe des Waldes hinein entwickelt. Das ist in Zusammenhang mit Beethovens Musik nicht Kitsch, sondern künstlerisch-romantische Umsetzung im Sinne der großen Maler des beginnenden 19. Jahrhunderts. Das zeigt sich auch beim Gefangenenchor, der an die Fenster tritt und das jetzt rotsonnig durchglühte Waldbild in sich aufsaugt. Die befreiten Gefangenen sind am Schluss ganz in Weiß gekleidet, im Sinne einer Apotheose, dazu ergrünt dann auch wieder der zuvor winterlich entlaubte Wald, ein schönes und hoffnungsvolles Schlussbild.
Ralf Wegner, 24. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ich vermisse die GROSSEN Leonoren wie Goltz, Mödl, Nilsson, Jurinac, Christa Ludwig, Rysanek, etc.
Fred Keller
Lieber Herr Keller, Sie haben völlig recht, aber haben Sie diese großartigen Sängerinnen wirklich alle als Leonore auf der Bühne erlebt? Dann alle Achtung, ich nur in anderen Rollen.
Viele Grüße,
Ihr Ralf Wegner