Foto: © Simon Fowler
Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
Lucienne Renaudin Vary spielt „María de Buenos Aires“ (Piazzolla) bei der OPUS KLASSIK 2021 Gala
von Lorenz Kerscher
Mein künstlich intelligenter „Großer Bruder“ in der Google-Zentrale glaubt immer zu wissen, was für mich gut ist. Also versorgt er mich regelmäßig mit Videovorschlägen in YouTube! Skeptisch wie ich bin, misstraue ich ihm natürlich. Wenn da ein nettes Mädel als Wunderkind präsentiert wird, das auf der Trompete mal Klassik, mal Jazz und in letzter Zeit vor allem Crossover spielt, halte ich das zunächst einmal für ein Internetphänomen mit einer guten Marketingstrategie. Ich bin gewiss nicht abgeneigt, mir von einer hübschen jungen Dame schöne Klänge vorspielen zu lassen, und so war ich auch gleich angetan von der 1999 geborenen Lucienne Renaudin Vary aus Frankreich, ihrem klangschönen, sauberen Spiel und ihrem ausgeprägten Sinn für Melodie. Die zierliche Solistin gibt sich ein mädchenhaftes Äußeres und tritt dazu passend gerne barfuß auf. Während andere Blechbläser in der Regel stocksteif dastehen, um die nötige Atemstütze aufzubauen, beherrscht sie ihr Instrument mit solcher Lockerheit, dass sie ihre Darbietungen noch mit eleganten Tanzschritten bereichert. So gut mir das auch gefiel, verdächtigte ich mich doch zunächst einmal selbst, in erster Linie das Wunschbild einer idealen Enkeltochter zu bewundern.
Doch als Hobbymusiker, der sich selbst mit den Schwierigkeiten eines Blechblasinstruments auseinandersetzt, höre und achte ich auch auf die Feinheiten des Spiels. Und bei Lucienne Renaudin Vary war mir schnell klar, dass sie die Trompete mit traumwandlerischer Sicherheit und in allen technischen Finessen beherrscht. Sie ist flexibel genug, um auf ihrem Instrument Klassik und Jazz parallel zu studieren. Beim Zusammenstellen einer biografischen YouTube-Playlist als Grundlage für diesen Artikel kam ich auf über 100 Videos, so viele wie bisher noch bei keinem Rising Star. Diese zeigen tatsächlich eine sehr bemerkenswerte Entwicklung als Wunderkind auf. Schon als Kind hatte sie Tanzunterricht, mit 9 Jahren begann sie dann mit dem Trompetenspiel und schon zwei Jahre später präsentierte sie ein Können, über das sich mancher Hobbymusiker nach lebenslangem Lernen glücklich preisen würde. Doch ihre Zeitskala ist eine schnellere: Schon mit 14 Jahren hatte sie eine so fantastische Technik, dass sie Teile virtuoser Trillersequenzen wie im Konzert von Hummel allein mit Ansatztechnik spielte. Für den Ganztontriller auf e‘‘ wurden, wie im folgenden Beispiel gegen Ende zu sehen ist, einfach drei Ventile gedrückt gehalten und die rasend schnellen Tonwechsel wurden nur mit den Lippen erzeugt.
Lucienne Renaudin-Vary (2013) – Hummel Trompetenkonzert (Ausschnitt)
Man muss lange suchen, um jemanden mit einer so bravourösen Ansatztechnik zu finden! Inzwischen bin ich sicher, dass meine Bewunderung nicht nur ihrem Charme, sondern vor allem ihrem Können gilt. Ebenso hat sie die Auszeichnung ihrer CD Piazzolla Stories bei Opus Klassik 2021 gewiss nicht für das Bild auf der Plattenhülle, sondern für die musikalische Qualität erhalten. Sie greift dabei auf Kompositionen des beliebten, im Tango verwurzelten Astor Piazzolla zurück, mit denen sie in letzten Jahren schon Konzerte in kleinen Besetzungen gestaltet hatte. Dank der Begeisterung, die sie für die lateinamerikanische Tonsprache entwickelt hat, entsteht auch durch die eingespielten Orchesterarrangements eine Sogwirkung, die den Hörer in ihren Bann zieht.
Es ist bereits das dritte Album, das sie bei Warner Music herausgebracht hat, und der Erfolg in diesem Sektor kann gewiss nicht als Internetphänomen abgetan werden. Von Anfang ihrer Entwicklung an gewann sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen, als besonderen Höhepunkt 2016 die „Victoire de la musique classique“ in der Kategorie Neuentdeckung. So folge ich hier in „Klassik begeistert“ also gerne dem Vorbild von Rolando Villazón, der sie im selben Jahr in seiner Serie „Stars von morgen“ vorstellte. Schon als 16-Jährige gelang ihr dabei wahrhaftige Gesangskunst auf der Trompete!
Lucienne Renaudin Vary, Stars de Demain, ARTE, 2016. Zweiter und dritter Satz des Trompetenkonzerts von Hummel und Etüde „du Style“ von Théo Charlier.
Das Repertoire an klassischer Originalliteratur ist jedoch viel zu klein, um dem Elan und Gestaltungswillen einer aufstrebenden Solistin zu genügen. In der Barockmusik war melodisches Spiel auf der ventillosen Naturtrompete nur im hohen Register und mit Abstrichen bei der Intonation möglich, was man heute mithilfe der Piccolotrompete besser zu machen versucht. Selbstverständlich beherrschte sie schon sehr früh auch diesen im festlichen Rahmen durchaus wirkungsvollen Stil (siehe Beispiel), doch ebenso möchte sie ihren vollen und runden Ton in der tiefen und mittleren Lage in die Waagschale legen. Diese schönen Klangfarben werden in der klassischen Musik jedoch meist nur als ein gelegentliches Glanzlicht im Orchestergewebe eingestreut; abgesehen von den Konzerten von Haydn und Hummel gibt es leider kaum Sololiteratur.
Also musste sie auch andere Wege beschreiten und entwickelte sich parallel zum Klassikstudium zu einer stilistisch und in der komplexen Rhythmik sattelfesten Jazzmusikerin. Hier bin ich kein Sachkenner, doch mein Eindruck ist, dass sie sich die Seele auch dieser Musikgattung sehr gut zu eigen machen kann. Sie nutzt mit offensichtlicher Begeisterung die Möglichkeit, sich innerhalb einer kleinen Combo von anderen Mitwirkenden zum individuellen Gestalten inspirieren zu lassen und die eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Zwischendurch nimmt sie auch das Mikrophon in die Hand und singt, und offensichtlich genießt sie die von dieser Musikgattung gebotenen Freiräume.
Le live: Lucienne Renaudin Vary « For me, Formidable » – 03/10/2019
Den Kontrabass in diesem Videobeispiel spielt ihr jüngerer Bruder Philémon, der sich an seinem Instrument ebenfalls als Wunderkind entwickelt und schon als Zwölfjähriger mit einem Ausschnitt aus Schuberts Arpeggione-Sonate sein außergewöhnliches Talent bewies. Viele Wege scheinen offen für die so überaus begabten jungen Leute und man kann sehr gespannt sein, in welche Richtung die Reise gehen wird. Lucienne wird eher mit melodiösen Arrangements ihr Publikum finden als mit zeitgenössischen Pflichtstücken, wie man sie in früheren Zeiten dem bildungsbürgerlichen Publikum noch aufnötigen konnte. Auch klassisches Repertoire pflegt sie weiterhin und man wird sie gewiss noch öfter über den roten Teppich schreiten sehen, gerne weiterhin barfuß tanzend wie in dem abschließenden Beispiel!
Lucienne Renaudin Vary, Musiques en Fête, Juni 2021; aus Gershwin: Ein Amerikaner in Paris
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist in Youtube
Agenturprofil bei Harrison Parrott
Lucienne Renaudin Vary in Wikipedia
Lorenz Kerscher, 21. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.
„‘Musik ist Beziehungssache‘, so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“