Schweitzers Klassikwelt 138: Verkleidungsposse: Ein Bariton mutiert zum Tenor

Schweitzers Klassikwelt 138: Verkleidungsposse  klassik-begeistert.de, 27. Mai 2025

Bild: Original Score Cover, Mailand 1892

Ein aufdringlich hergerichteter Tonio tritt vor den Vorhang und beginnt den Prolog. Die berüchtigte Höhe bleibt spannungslos. Wir mussten bei der Interpretation nicht aufgeregt mit leben. Es klang nicht nach Bravour eines Baritons mit guter Höhe. Es war ja auch Canio, der Tenor, der gegen Schluss des Prologs die Maske abnahm.

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Warum haben wir nicht gleich Verdacht geschöpft? Adam Plachetka hat wie auch viele eben international bekannt gewordene Baritone ein zu wenig charakteristisches Timbre. Mächtigkeit der Stimme geht, wie in letzter Zeit bei Nabucco und Macbeth erfahren, vor Einzigartigkeit. Wir sind uns bewusst, dass diese Verteidigung auf tönernen Füßen steht, und wir sind beschämt unsren Liebling Jonas Kaufmann nicht erkannt zu haben. Journalistenkollegen trösteten uns, wir bräuchten nicht zerknirscht zu sein, wir waren nicht die Einzigen.   

Bei Jonas Kaufmann gibt es viele kritische Stimmen, die ihn als Bariton hören. Die kommen mit dem Prolog jetzt auf ihre Rechnung. Außerdem wird Plachetka als Bassbariton gehandelt. Aber des Öfteren haben wir früher im Rundfunk Georg Hann sowohl als Van Bett als auch mit Tonios Prolog gehört!

Kleindruck in der vierten Zeile ist Georg Hann zu lesen.

Wir fragten im Pressebüro nach, welcher Beweggrund den Prolog Jonas Kaufmann und nicht Adam Plachetka singen ließ. Die Antwort war unklar in seiner Ausdrucksweise und schwer zu deuten: „Es handelt sich um eine künstlerische Entscheidung, die unser Direktor in Absprache mit den Künstlern getroffen hat.“ Auch ein Nachbohren half nicht. Man bat um Verständnis, dass man uns „hierzu keine weiteren Informationen mehr geben kann“. Schon im ersten Antwortschreiben wurde auch darauf hingewiesen, dies sei nicht unüblich, dass der Tenor den Prolog singt.

Zuletzt beispielsweise José Cura in den fünf Aufführungen der Staffel des Jahres 2008. Damals wurde das offiziell mit der Bemerkung „auf Wunsch der Direktion“ angegeben, aber auch ohne nähere informative Begründung. Das ließ die Gerüchtebörse heiß laufen. Man munkelte, das Verhältnis von Direktor Joan Hollender und dem „Tonio“ Georg Tichy sei nicht gut gewesen. Andrerseits müssen wir bedenken, dass Tichy am Ende seiner Sängerlaufbahn stand. Parallel zum Tonio verkörperte er auf der Bühne der Wiener Staatsoper noch dreimal den Sharpless. Im Jahr darauf nur mehr dreimal den Faninal und einmal noch im Mai 2010 den Giorgio Germont.

Beim Wechsel Plachetka – Kaufmann könnte eine Rolle spielen, dass der Bariton auch im ersten Teil als Alfio auftritt. So stand Aldo Protti nur an acht von dreiundfünfzig Abenden sowohl als Alfio als auch als Tonio auf der Bühne. Sein Konkurrent Ettore Bastianini sang zwischen 1959 und 1965 siebenmal den Tonio, aber nie den Alfio.  Wie man es auch betrachtet, der Beweggrund bleibt ein Geheimnis.

Probenfoto der Rachearie, De Nationale Opera Amsterdam mit Bassbariton Sam Carl und Coachin Rosemary Joshua

Da könnte auch in „Le nozze di Figaro“ in der dritten Szene der Sänger des Figaro als Bartolo auftreten und Figaro mit der Arie „La vendetta“ Rache schwören, um in einer eindeutigeren Bass-Arie zu brillieren.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 27. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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