Schweitzers Klassikwelt 92: Überbietet eine Oper das Theaterstück oder den Roman

Schweitzers Klassikwelt 92: Überbietet eine Oper das Theaterstück oder den Roman?  klassik-begeistert.de, 10. Juli 2023

Steidl Verlag, Einbandgestaltung: Klaus Detjen unter Verwendung des Bilds „Paris, Regentag“ von Gustave Caillebotte (1877)  

von Lothar und Sylvia Schweitzer

In der Einführung zu einer Sonntagsmesse im ORF III meinte die Chorleiterin in Anspielung auf das Evangelium des Sonntags von der Verklärung des Herrn, auch den Chorgesang des Kyrie, des Sanctus und des Agnus Dei können wir wie „eine Stimme aus der Wolke“ erleben. Die Musik als vierte Dimension, über das irdische hinausgehend, eine Offenbarung eigener Art.

„Son of God Mass“ von James Whitbourn für gemischten Chor, Sopransaxophon und Orgel   Grazer Dom   6. März 2023  ORF III

Und dann ein gänzlich anderes Erlebnis. Im Burgtheater Heidemarie Hatheyer als Grillparzers Medea. Für mich gab es in der Ausschließlichkeit der Jugend nur mehr Wagners Gesamtkunstwerk. Jetzt plötzlich diese faszinierende Sprechstimme, die ohne großen Tonumfang Ausdruck hatte und mitriss.

In Prokofjews „Krieg und Frieden“ vermissen wir eine Schlüsselstelle aus Tolstois Roman, nämlich die Gedanken Fürst Andrej Bolkonskijs, als er schwer verwundet auf dem Schlachtfeld liegt und nichts anderes als in den Himmel schauen kann: „Dieser ruhige Wolkenzug an diesem hohen, unendlichen Himmel. Und wie kommt es, dass ich diesen hohen Himmel vorhin gar nicht wahrgenommen habe? Und wie glücklich bin ich, dass ich ihn endlich doch noch kennengelernt habe!“ Die Gedanken hätte Prokofjew in einem Monolog zum Ausdruck bringen können. Aber dürfen wir einem Sänger zumuten auf dem Rücken liegend zu singen? Außerdem haben Bolkonskij und Publikum nicht dieselbe Blickrichtung. Mit einer Videoeinspielung ließe sich das einrichten. Es bleiben jedoch Zweifel, ob in diesem Fall Gedanken gesprochen/gesungen werden dürfen, ohne die Intimität des Ereignisses zu verletzen.

Anders löst Manfred Trojahn in seiner Oper „Orest“ das Problem. Sechs Frauenstimmen lassen Orests Gewissensbisse erklingen. Sie sollen nach dem Willen des Komponisten den ganzen Zuschauerraum ausfüllen, um uns nahe zu gehen. Das geht allerdings nicht über die Bühne. Die vier Soprane und die zwei Alte werden aus dem Off über Lautsprecher in den Saal übertragen. Ausnahmsweise akzeptieren wir in dem Fall, dass die Tontechnik als Hilfsmittel herangezogen wird.

Leider wird die musikalisch raffinierte Habanera immer wieder, wie in einer Vorschau der Bühne Baden erlebt, durch vordergründiges Hüftenwackeln und billiges erotisches Gehabe begleitet. Ein anonymer Autor schildert da eine Begegnung mit einer „Zigeunerin“ in einer Kurzgeschichte viel prickelnder: „Als sie den Gang heraufkam und ihr Gesicht immer deutlicher wurde, fiel mir ein rätselhafter Blick auf, der mich irritierte. Nach einem Kaffeehausbesuch lud sie mich zu sich ein. Da standen auf kleinen Tischen, Konsolen und Regalen kleine Bilderrahmen. Lerne ich so ihre Familie kennen oder zeigen die Fotos Verehrer? Bei näherem Hinschauen erkenne ich überall auf den Fotos sie allein – unbekleidet.“ Subtile Szenen, die nicht bühnentauglich gemacht werden können.

Havanna – nach dieser Stadt ist die Habanera benannt   © Lothar Schweitzer

Lesen wir das Textbuch von Puccinis „La Bohème“, so klopft es an der Tür und Rodolfo lässt das Mädchen gern herein, von dessen Liebreiz er sich angezogen fühlt. Unsrer Fantasie und unsren Vorlieben ist es noch überlassen, wie wir uns die Wirkung ihres Eintretens vorstellen. Auf der Bühne erleben wir dann die Realität. Opernstars sind da gegenüber Debütantinnen, die ganz am Anfang ihrer Laufbahn stehen, im Nachteil. Rodolfo sieht seine Nachbarin zum ersten Mal. Ähnlich sollen auch wir den Augenblick erleben. Im Text genügt einfach schon Mimìs Erscheinen, um zu verzaubern. In der Oper muss es ihre Stimme sein. Man darf der Interpretin nicht anmerken, dass schon Ausflüge in dramatische Partien vorhergegangen sind.

In dem Libretto zugrunde liegenden „Scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger (als Elsässer ursprünglich Mürger geschrieben) war sie schon die Geliebte eines von Rudolfs Freunden. Ihr Charakter wird hier schillernder und gebrochener, somit natürlicher beschrieben, eine Frau, die „den Rauch der Pfeifen ohne Kopfschmerzen ertrug“. Wir lesen weiter. „Ihre Züge bekamen in Momenten des Ärgers einen brutalen, fast wilden Ausdruck.“

Das Zueinanderfinden von Händen und Herzen nach dem Verlöschen der Kerzen führt zu einer der beliebtesten und berührendsten Tenorarien, dem „Che gelida manina“.  Giuseppe Giacosa oder Luigi Illica zeigten dabei großes Geschick. Denn das Verlöschen steht bei Murgers „Scènes“ zweimal in einem gänzlich verschiedenen Kontext. Rudolf war wieder einmal auf der Suche nach einer Partnerin und stößt auf ein schon von der Sprache her sehr einfaches Fräulein mit Namen Louise, das er zu sich einlädt. Sie gibt vor, dass ihr der Schuh drückt und während Rudolf ihr beim Aufschnüren hilft, löscht sie, um ihn zu necken, die Kerzen. Bald musste der Poet enttäuscht einsehen, dass „sie das Platt der Liebe sprach, während er die höhere Sprache der Liebe reden wollte“.

Ein andermal verfließen die Konturen Mimìs mit einer Francine in der Dichtung Murgers und der Dichter wird zum Bildhauer. Zwar gibt er nach dem Verlöschen der Kerzen vor, keine Streichhölzer zu haben und dass sie auf das Hereinfallen des Mondlichts warten müssen, aber es ist Francine und nicht der Mann, die den Schlüssel zuerst entdeckt und heimlich versteckt. Das Leiden und das frühe Sterben Mimìs werden hier dupliziert. Nur dass hier der Verlassene eben kein Dichter, sondern ein Bildhauer ist. Er bestrich mit einem in Olivenöl getauchten Pinsel Augenbrauen, Wimpern und Haare der Toten, damit sie, wie er dachte, nichts spüre, wenn er ihr die Gipsmaske abnimmt. Aber da geschah es. Durch das noch nicht völlig erkaltete Blut bildeten sich zartrosa Schatten, die durch das Abnehmen der Form gehobenen Augenlider ließen das Blau der Augen sehen, die Lippen, wie von einem beginnenden Lächeln geöffnet. „Wer könnte behaupten, dass das Bewusstsein dort aufhört, wo die Unempfindlichkeit des Körpers beginnt? Die Scheidenden haben so viele Gründe den Zurückbleibenden zu misstrauen.“ (wörtliches Zitat)

Die mächtigen Schlussakkorde des Vierten Bilds. So eine Dramatik kann die Literatur nicht bieten. Aber die Dichtung erschüttert mehr. Rudolf erfährt vom Tod Mimìs im Spital: „Bett Nr. 8 ist tot.“ Er kehrt mehrere Tage in Verzweiflung nicht mehr heim. Mimì wurde jedoch nur umgebettet und schickt ihm einen Brief. Sein Ausbleiben versetzte sie in einen entsetzlichen Zustand. Einige Stunden bevor Rudolf von dem Irrtum erfährt, ist sie verschieden und bereits zu einem Massengrab gefahren worden.

Prosaisch enden „Szenen aus dem Pariser Leben“. Nach Jahren animiert Rudolf Marcel in ihrem alten, bescheidenen Restaurant zu dinieren und Erinnerungen aufzufrischen. Doch sein Malerfreund antwortet: „Nur mehr hinter einer Flasche vorzüglichen Weins.“

Seit der Erfindung von Tonaufnahmen singt eine Sängerin, ein Sänger auf der Bühne gegen ihre/seine eigene Aufnahme, die durch die Kunst der Schnitte perfektioniert wird. Das entspricht in gewisser Hinsicht der gedruckten Partitur. Der Theater- und Medienwissenschafter Prof. Dr. Clemens Risi betont als das Schöne gerade das Unwiederholbare einer Opernaufführung, die sich in den Details nicht vorherbestimmen lässt. Auch wenn es manchen meiner LeserInnen vielleicht gegen den Strich geht, zitiere ich wörtlich: „Ein unerwartet missglückter Ton. Die Spannung wächst, die Sorge, es könnte sich wiederholen. Umso kostbarer dann die geglückten Töne, die man vor der Überraschung eigentlich erwartet hatte, nach der Panne aber nicht mehr in dieser Selbstverständlichkeit. Die Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit verstärken den Reiz des Augenblicks.“ Es kommt ein Moment der Unvorhersehbarkeit hinein. Das lässt sich aus der Partitur nicht herauslesen.

Bild 3: © Nicole Elyse DiPaolo

Lothar und Sylvia Schweitzer, 10. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

PS: Herrn Markus Schachinger von „Buchaktuell“ in der Spitalgasse 31 im neunten Wiener Gemeindebezirk danke ich sehr herzlich, dass er mich ermuntert hat bei der Suche nach Henri Murgers vergriffenem Buch „Bohème – Szenen aus dem Pariser Leben“ nicht aufzugeben.

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

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