Daniels Anti- Klassiker- 43: Pjotr Tschaikowsky – Der Nussknacker (1892)

Daniels Anti-Klassiker- 43: Pjotr Tschaikowsky – Der Nussknacker (1892),  klassik-begeistert.de

Foto: »Der Nussknacker« von Vasily Medvedev | Yuri Burlaka, Staatsballett Berlin, (c) Bettina Stöß

Höchste Zeit sich als Musikliebhaber einmal neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen.

Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der so genannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese teilweise sarkastische, teilweise brutal ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.

 von Daniel Janz

Tradition ist gemeinhin auch als generationenübergreifende Weitergabe von Praktiken definiert, die ihren Nutzen bewährt haben. Traditionen überdauern, festigen sich und prägen Kulturen und das gesellschaftliche Zusammenleben. Als solches treffen wir aber oft auch auf Traditionen, die zu ihrer Entstehung einmal sinnvoll waren, über die Zeit aber den Kontakt zur Entwicklung einer Gesellschaft verlieren. Dementsprechend waren Sinn und Unsinn von Tradition auch in dieser Serie bereits Gegenstand mehrerer Beiträge. Und was könnte mehr von Traditionen geprägt sein, als das Weihnachtsfest? In diesem Kontext ist ein musikalisches Werk inzwischen traditionell so etabliert, dass es dies gerade heute – am Heiligabend – zu hinterfragen gilt: Die Rede ist vom Pjotr Tschaikowskys Nussknacker.

Tschaikowskis Nussknacker gehört zu jenen Klassikern, die nicht nur weltweit bekannt sind, sondern auch rege rezipiert werden. Man muss sich nur einmal genauer umhören, wenn man wie in jedem Jahr auch diesmal auf dem Weg nach Hause, beim Einkaufen, Fernsehen, Internet und sogar im Privatleben schon wieder seit Wochen mit Kitsch und Heile-Welt-Fantasien bombardiert wird. Es braucht gar nicht erst den Kulturbetrieb, der es allen gleich macht und zu dieser Zeit die üblichen Geschütze – Weihnachtspassion, Weihnachtsoratorien und natürlich Tschaikowsky – auffährt. Spätestens beim Blick auf eine der vielen saisonalen Fernsehwerbungen stolpern wir doch wieder über den „Tanz der Zuckerfeen“, der wegen seiner herrlichen Süße ständig neu malträtiert wird:

https://www.youtube.com/watch?v=Gzxwv9EZAGw&list=PLtVwid6LBdRPR4jnSbnv4vCuWlM6MPkr8

Alleine dieser Trubel dürfte für den Einen oder die Andere Grund genug sein, um genervt das Weite suchen zu wollen. Gerade auch Tschaikowskys Nussknacker stellt sich als besonders renitente Weihnachtsfolter dar. Denn im ursprünglichen Ballett, das der russische Komponist nach einem Märchen von E. T. A. Hoffmann komponierte, begegnet uns wirklich das komplette Sammelsurium an schlechtem Geschmack!

Ich meine, man muss sich doch nur mal die Handlung anschauen… ein junges Mädchen verliebt sich auf einer Weihnachtsfeier in einen locker 20 Jahre älteren Mann, träumt davon, dass das Geschenk – der Nussknacker –, das er ihr macht, lebendig wird; dann findet noch ein Krieg zwischen Spielzeugen und Ratten statt und am Ende „wird sie zur Frau“ – sprich, sie hat entweder ihre erste Periode und/oder wurde gerade frisch von einem Mann entjungfert, der genauso gut ihr Vater sein könnte. Ist das schon Vergewaltigung? Sexismus pur ist es definitiv! Wen nervt das denn nicht?

Dazu kommt die Anmaßung kultureller Überlegenheit alter weißer Männer gegenüber anderen Kulturen. Beim Blick in Tschaikowskys Programm fällt nämlich ein Klischee nach dem anderen auf. Und dann auch noch der blanke Rassismus, von dem das Werk geradezu trieft. Ich meine – hallo? Chinesischer Tanz? Orientalischer Tanz? Das geht ja mal überhaupt nicht! Jedem guten Geschmack verbietet sich das von selbst! Wo man auch hinsieht, man weiß beim Nussknacker ja gar nicht, wo man anfangen soll…

Wenn Sie bis hierher gedacht haben – was für ein Schwachsinn schreibt dieser Irre da!? – dann sind Sie damit nicht alleine. Ich, als Autor möchte an dieser Stelle betonen, dass die bisherigen Ausführungen eine bewusst sarkastische Überzeichnung und nicht Ernst zu nehmen sind. Denn ich schätze den Nussknacker sehr – aus eigener Erfahrung kann ich jedem nur einen Besuch empfehlen! Als ich beispielsweise 2019 eine Ballett-Aufführung im Staatlichen Kreml (Moskau) besuchen durfte, war das ein Schlüsselerlebnis! Einen so plumpen Verriss würde ich also gar nicht erst Ernst nehmen oder den Autor der Stümperei bezichtigen. Einem so musikalisch wie szenisch hervorragendem und nachhaltig wirksamem Werk solche Dinge anzudichten – das würde nicht einmal einem Trottel einfallen.

Jedenfalls dachte ich das bis vor ein paar Wochen… dann erreichte mich ein Artikel in der FAZ. Inhalt: Die Zensur von Tschaikowskys Nussknacker am Staatsballett in Berlin. Und bei dem, was ich da las, flatterten mir buchstäblich die Augen. Da behauptet Christiane Theobald – aktuell in Berlin kommissarische Direktorin – doch tatsächlich genau jenes, was ich zuvor als absurd gemeintes Horrorszenario an die Wand gemalt habe: Der Nussknacker als Inbegriff von Rassismus und kultureller Anmaßung. Stein des Anstoßes der „Chinesische“ sowie der „Orientalische Tanz“:

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/rassismusvorwurf-staatsballett-berlin-streicht-den-nussknacker-17650394.html?

An dieser Stelle muss man ernsthaft fragen: Für wie blöd hält man uns eigentlich? Wie dumm muss man eigentlich sein, um ein über Jahrhunderte etabliertes und absolut herausragendes Kulturwerk wie den Nussknacker zum Inbegriff falsch verstandener Political Correctness zu machen? Und das auch noch in Deutschland, das weltweit als DAS Land der Klassik gilt.

Traditionen zu hinterfragen ist das eine. Ihnen falsche Inhalte anzudichten das Andere. Und ich weigere mich, so etwas als neue Tradition zu akzeptieren. Denn hier wird einfach mal konfus der Holzhammer „Rassismus“ rausgeholt, anstatt die beiden fraglichen Szenen als das zu deuten, was Tschaikowsky damit ausdrücken wollte: Als Traumszenen, die Exotik und die Anerkennung aller Welt an der in der Protagonistin heranwachsenden Weiblichkeit und Liebe verdeutlichen sollen.

In einem Podcast des Berliner Staatsballetts heißt es, „das Publikum sei noch nicht so weit zu verstehen, was es da eigentlich sehe“. Besitzen Theobald und Co. jetzt also als einzige die Deutungshoheit, weil sie ja so studiert und intelligent sind, dass niemand sonst ihnen das Wasser reichen kann? Was ist dann mit Werken wie Mozarts Türkischem Marsch, Korsakows Scheherazade, Dvoraks neunter Sinfonie „Aus der neuen Welt“, Brahms‘ „ungarischen Tänzen“ und vielen mehr? Sind die jetzt auch als kulturelle Anmaßung und/oder Rassismus zu zensieren? Müssen wir am Ende gar alle Universitäten und Musikhochschulen im Land der Klassik schließen, weil sie ja latent rassistische Inhalte verbreiten?

Ein anderes Wort, als „Irrsinn“ fällt mir dazu nicht mehr ein. Und das – ach so „dumme“ – Publikum scheint es ähnlich zu sehen, wenn ich mir die Besucherzahlen des Berliner Staatsballetts ansehe. Niemand lässt sich gerne für dumm verkaufen. Und der Kulturbetrieb ist vor allem eins: Ein Unterhaltungsbetrieb. Ich kenne kaum ein unterhaltsameres Ballett, als den Nussknacker. Lässt man diesen wegfallen und zerstört dadurch neben der Reputation des Werkes auch die Tradition, kommt man als Kulturbetrieb einer Unterhaltungsfunktion nicht mehr nach. Das aber ist der Inbegriff von Nutzlosigkeit. Ganz besonders, wenn es eine Folge von Fehldeutungen ist.

Die zwangsläufigen Konsequenzen solcher Entwicklungen haben wir in der Corona-Krise gesehen, in der die Kultur massiv heruntergefahren und fast gänzlich stillgelegt wurde. Und wir sollten uns erinnern: Kulturbetriebe kosten Geld, nutzlose Kulturbetriebe aber sind das Geld nicht wert. Muss man die Tendenz zum Sparen an der Kultur jetzt also auch noch durch persönliche Bigotterie und pure Dummheit weiter befeuern? Wenn uns allen unsere Kultur inklusive ihrer Traditionen lieb ist, dann kann die Antwort nur lauten: NEIN!

In dem Sinne: Haben Sie ein besseres Weihnachtsfest, als Theobald und Co. Und P.S: Weil uns unsere Kulturbetriebe so im Stich lassen, habe ich mir die Live-Aufführung des Nussknackers aus dem Bolschoitheater im Kino gegönnt.

Daniel Janz, 24. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at

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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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