Mahler in der Elbphilharmonie – und ich weine Tränen des Glücks und der Freude

Münchner Philharmoniker, Dirigent Daniel Harding, Sibelius und Mahler  Elbphilharmonie, 16. April 2024

Daniel Harding © Julian Hargreaves

Jean Sibelius (1865–1957)
Tapiola / Tondichtung für großes Orchester op. 112 (1926) [ca. 20 Min.]

Gustav Mahler (1860–1911)                                                                                      Sinfonie Nr. 5 cis-Moll (1901/02)

NCHNER PHILHARMONIKER

Dirigent  Daniel Harding

Elbphilharmonie, 16. April 2024

von Harald Nicolas Stazol

 Ich schreie mich gerade heiser vor Begeisterung, „Bravo“ schreie ich „Bravo, bravo, bravo“, rasend vor Hingerissenheit, ja, ich vergesse mich geradezu, und ich weiß gerade gar nicht genau, wen ich meine, diesen wahnsinns-eleganten Dirigenten Daniel Harding (der beste Export nach dem Brexit), die Münchner Philharmoniker (der beste Export aus Bayern zur Elbe), oder diese Aufführung von Mahlers 5. (der beste Export – ach was, völlig egal), die sich ALLE bei mir in meiner Musikliebe und meiner Mahler-Liebe ohnehin schon jetzt so ins Gedächtnis eingebrannt hat, dass ich die Notizen wohl gar nicht benötige, und ja, ich bin immer noch heiser!

Noch einmal: Diese unbeschreibliche Eleganz von Daniel Harding! Rank-schlank im Frack, weit und weiter ausholend, dabei links immer beschwichtigend mit flacher Hand, wenn er sich nicht gerade vor Ungestüm hinter sich am Pult festhält, oder mit dem Stab so nah an die Konzertmeisterin Naoka Aoki heranficht, dass man befürchtet, gleich sticht er ihr ein Auge aus, dann wieder alle einholend, bremsend, dann befeuernd – da hören wir noch Sibelius, als amuse gueule vorweg. Zu dem so fantastischen Mahler kommen wir noch!

Denn zunächst verlieren wir uns in einer Konzert-Fantasie „Tapiola“ des Jean Sibelius aus dem Jahr 1926: Wir sind im dunklen, finnischen Wald, im grünen Reiche des mythischen Waldgottes Tapio, einer Figur aus dem Nationalepos Finnlands, der „Kalevala“, wie sie 1835 von Elias Lönnrot veröffentlicht wurde, als literarische Grundlage.

Auf zahlreichen Reisen hatte der Schriftsteller die bis dato mündlich überlieferten Volksdichtungen gesammelt und in mehr als 22.000 Versen festgehalten. Und nun können wir uns einen Reim darauf machen! Denn schon da glänzen und funkeln sie, die Münchner, es ist dieser Auftakt von nur 20 Minuten, da gerät man in die erste Traumsequenz – ich jedenfalls kann mich diesen wogend-verwobenen Klangbildern nicht entziehen.

 „Haben Sie denn Mäkelä beim ganzen Sibelius-Zyklus letztes Jahr gehört?“ fragt mich die nette Dame in der Pause oben, auf den Sitzbänken vor den Panoramafenstern zur Stadt hin auf Etage 13, meinem Geheimtipp zum Rückzug und Kontemplieren und Konversieren, und „Natürlich, Madame“, kann ich antworten. Sie „Er war mir gar nicht so zugänglich…“ – „Und gerade eben, Gnädigste?“ – „Nun, man lernt immer hinzu! Und jetzt der Mahler!“, und da zieht sie schon eine kleine Partitur der 5. aus der kleinen Handtasche, „noch aus der DDR für drei Mark, man musste ja die Devisen loswerden!“ Nun aber hat mich schon der Schlag getroffen, soviel Expertise, so viel Liebhaberei, nein, wen man hier alles trifft! Und wie immer fühle ich mich in der Elbphilharmonie so aufgehoben wie nie, und wo nirgendwo anders: „Wenn Sie beim 4. Satz, dem Adagietto, ein Schluchzen hören, bin das ich, meine Liebe…“ – „Muss ich mir Sorgen machen?“ – „Nein, es werden Tränen des Glücks und der Freude sein!“

 Schon der erste Satz mit dem tragenden Trompeter Guido Segers zeigt, dass da erst das Orchester von der Isar an die Elbe kommen muss, um allen zu zeigen, wie man Mahler majestätisch malt: Überhaupt, die Bläser, so taktvoll und strahlend, welche Wonne, welche Lust! Und wieder dieser Gentleman am Pult, alles beherrschend, mir fällt unwillkürlich das Wort einer „benevolent Dictatorship“ ein, eines liebevollsten Tyrannen, langsam bedauere ich, keine Blumen mitgebracht zu haben, um sie Harding nach allem zu Füßen zu legen, verdient hätte er es, jede einzelne Rosenknospe wäre zu Recht geworfen! So aber muss er mit meiner ovationellen Heiserkeit zufrieden sein – und, wie immer, bin ich der erste, der losbrüllt!

 Aber zurück zum vierten Satz, hat er doch so existentielle Bedeutung für mich: Denn gerade verstarb jener, dem ich so viel zu verdanken habe, eben an musikalischer Bildung, (und nun einigem Vermögen) mein Erbonkel. Er war es, der mir schon als Teenager eröffnete, dass Luchino Visconti und seine Verfilmung des „Tod in Venedig“ und dieses langsam-leisest-leise Stück maßgeblich zu einer Mahler-Renaissance beitrug, und so bin ich an diesem Abend, für mich schließt sich ja ein Kreis, wirklich zu Tränen gerührt – und als sich mir, nicht zuletzt ob der Hingabe der so essentiell wichtigen Harfenistin Teresa Zimmermann, nun doch ein leises Schluchzen entringt, greift meine Sitznachbarin zartest meine Hand.

 „Was war der bedeutendste Abend, den Sie hier erlebt haben?“, hatte sie schon vorher gefragt.

 Und, nachdem ich mich schon heiser geschrien habe, kann ich ihr mit Fug und Recht  über den donnernden, stehenden Applaus zuwerfen – gerade noch der letzte Satz, so laut, vollendet, fulminant, man fürchtet, dass die ganz oben hängenden Ränge hinabstürzen:

 „Dieser!“

 Und dem ist nichts hinzuzufügen.

Harald Nicolas Stazol, 17. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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