Buchrezension:
Arno Lücker hat seine VAN-Kolumnen zu einem Nachschlagewerk vereint.
Arno Lücker: 250 Komponistinnen. Frauen schreiben Musikgeschichte.
Die Andere Bibliothek, ISBN 978-3-8477-0023-4. 632 Seiten, 58 €.
von Brian Cooper, Bonn
Endlich hören wir in den Konzertsälen mehr Musik, die von Frauen komponiert wurde. Viel mehr als früher. Allein im letzten Jahr konnte man in europäischen Gefilden Werke von Louise Farrenc, Fanny Hensel, Florence Price und vielen anderen Komponistinnen hören. Das DSO Berlin spielt sogar in der laufenden Saison in jedem Konzert dezidiert mindestens ein von einer Frau komponiertes Werk.
Tragisch nur, dass man derlei im 21. Jahrhundert noch extra erwähnen muss. Noch immer sind wir von Gleichberechtigung beschämend weit entfernt. Es sollte selbstverständlich sein, möglichst viel gute Musik auf den Spielplänen zu sehen, unbedingt auch abseits ausgetretener Pfade – und egal, ob sie von einer Frau oder einem Mann erdacht wurde.
Arno Lücker hat nun seine zwischen 2019 und 2023 geschriebenen Kolumnen aus dem VAN Magazin in einem Buch zusammengefasst, das allein aufgrund seines Gewichts schon als Mordwaffe taugte. Wie so oft bei Büchern der Anderen Bibliothek ist auch dieses Opus ein haptisches Vergnügen, hochwertig produziert, auf gutem Papier gedruckt.
Elke Heidenreich ist voll des Lobes für 250 Komponistinnen – Frauen schreiben Musikgeschichte: „Von diesen 250 kenne ich gerade mal 16! Was für ein Glück, dass an diese schöpferischen Frauen endlich erinnert wird.“ Bei mir sind es zwar ein wenig mehr, aber die überwältigende Mehrheit der hier aufgeführten Komponistinnen war auch mir unbekannt. Wie steht’s mit Ihnen? Kennen Sie Marcelle de Manziarly? Oder Morfydd Owen? Eben. Allein deshalb ist dieses Großprojekt ein verdienstvolles Unterfangen.
Allerdings sieht sich der Autor auch Vorwürfen ausgesetzt, die Forschungsarbeit ausgerechnet von Frauen nicht zu erwähnen, gar bewusst zu vertuschen, „verdeckt“ und „unkenntlich“ bzw. „unsichtbar“ gemacht, „abgegriffen“ zu haben. Die Debatte tobt hauptsächlich auf Social-Media-Kanälen, und da ich mich dort nicht herumtreibe, kann ich mich nicht en détail dazu äußern.
Klar wird bei oberflächlicher Betrachtung zunächst nicht, ob es sich um die Forschungsarbeit für dieses Buch handelt oder einfach nur darum, dass der Autor vorangehende Arbeiten nicht oder nur unzureichend erwähnt. Letzteres ist wohl des Pudels Kern.
Die Musikjournalistin Hannah Schmidt schreibt, beispielhaft und nicht explizit auf Lücker bezogen, in ihrem Beitrag für den SWR vom Januar dieses Jahres:
„Es ist eine alte und manchmal heikle Diskussion. Kurz erklärt anhand eines Beispiels: Seit Jahrhunderten kämpfen Frauen gegen patriarchale Unterdrückung, sie schreiben, forschen, demonstrieren, schaffen Kunst – und fliegen doch mit all dem stetig unterm Radar, nicht selten unter prekären Bedingungen oder gänzlich unbezahlt.
Dann kommt ein Mann daher, findet diesen Schatz an Wissen, schreibt einen Text darüber – und steht auf einmal im Rampenlicht. Alle hören ihm zu. Sie klatschen, bezahlen ihn stattlich für Vorträge und Diskussionen. Sie staunen. Was für spektakuläre Gedanken! Ein Pionier!“
Fest steht, dass es unerträglich ist, wenn jemand mit Herzblut Forschungsarbeit – oder welche Arbeit auch immer – geleistet hat und ein Anderer dafür zu Unrecht Lob und Bewunderung einstreicht. Erstere sind allzu oft auch Frauen, Letztere allzu oft auch Männer. Unzählige Beispiele, auch aus der Welt der klassischen Musik, zeugen von dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit.
Der Vorwurf, Lücker habe tatsächlich plagiiert, steht meines Wissens nicht explizit im Raum. Doch der große Fehler, der von verschiedenen Medien in Rezensionen von Lückers Buch begangen wurde, und auf diesen wichtigen Punkt macht Frau Schmidt aufmerksam, ist die unwahre Behauptung, dieses Buch sei das erste zum Thema. Das ist unsauberer, schlechter Journalismus. Eine kurze Suche förderte zum Beispiel ohne viel Mühe Eva Weissweilers Buch Komponistinnen aus 500 Jahren aus dem Jahre 1981 (!) zutage. Und der Name Weissweiler findet sich im Personenregister von 250 Komponistinnen… nicht.
Lückers Buch hat bis zu etwa einem halben Dutzend Quellenangaben zu jedem Kapitel, und das sind meist Webseiten, bei denen das Abrufdatum fehlt. Dieser Teil heißt „Anmerkungen“. Ein Literaturverzeichnis gibt es nicht. Das ist bedauerlich.
Nun aber zum Inhalt. 250 Komponistinnen ist in erster Linie ein Nachschlagewerk, und die geneigte Leser(innen)schaft wird möglicherweise zunächst die bekannteren Komponistinnen suchen, über die bereits viel geforscht wurde, also etwa Hildegard von Bingen, Clara Schumann, Fanny Hensel, Lili und Nadia Boulanger, Olga Neuwirth und die vor nicht einmal einem Jahr viel zu früh verstorbene Kaija Saariaho.
Und meist wird man nicht enttäuscht. Bedenken wir, dass es eine Herausforderung bleibt, ein ganzes Leben auf zwei, drei Seiten zusammenzufassen und innerhalb dieses Rahmens auch noch ein Werk zur Kurzanalyse vorzustellen. Das Schema „Biographisches plus Musikbeispiel und dessen Einordnung in die Musikgeschichte“ bewährt sich insgesamt vorzüglich. Es wird kenntnisreich referiert, die ausgewählten Musikstücke werden klug analysiert, und ein QR-Code auf Seite 19 führt zu einer Webseite, auf der Links zu den besprochenen Werken zum Nachhören gelistet sind.
Im Kapitel über Fanny Hensel fehlt nicht das berühmte Zitat ihres Vaters, Abraham Mendelssohn: „Die Musik wird für ihn [Felix] vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seines und Tuns werden kann und soll.“ (S. 359)
Wortschöpfungen wie „Sehnsuchtsmelancholietrauersuizidromantik“ (S. 31) sind in kleinen Dosen amüsant, und man weiß in diesem konkreten Fall sofort, in welchem Jahrhundert man ist. Aufmachung und Schreibstil des Buches zielen möglicherweise darauf ab, ein neues Publikum für die Materie zu gewinnen, das sich vielleicht dann auch mal in den Konzertsaal traut. Das vermutet auch Hannah Schmidt. Zu wünschen wäre es. Ob es dabei unbedingt eines rosafarbenen Schutzumschlags bedarf, sei dahingestellt. Zieht man diesen ab, wird es angenehm türkis, und die wunderbaren Illustrationen von Chiara Jacobs, die im Buch verteilt sind, kommen hier auf Vorder- und Rückseite geballt zum Vorschein.
Ein Ärgernis sind indes einerseits etliche merkwürdige Formulierungen, andererseits vor allem einige erstaunliche Nachlässigkeiten, faktisch wie orthographisch. Das sind vermeidbare Schwachpunkte, die in einem so ausnehmend schönen Buch nichts zu suchen haben.
Gleich bei der ersten Komponistin, Margaret Ruthven Lang, stutzt man ob folgender Bemerkung: „Lang gab aus familiären Gründen 1919 ihre Kompositionstätigkeit auf. Doch kein Grund zur Traurigkeit. Es spricht alles dafür, in die Klangwelt Langs einzutauchen.“ (S. 21) Die „familiären“ Gründe, an die man sofort denkt, nämlich Sorgearbeit, Kindererziehung und so fort, sind angesichts des Geburtsjahrs 1867 eher unwahrscheinlich. Man wünschte sich hier einen zweiten und dritten Satz zur Erläuterung, die den zweiten und dritten Satz, für die sich der Autor letztlich entschieden hat, ersetzten.
Gleich auf der nächsten Seite findet sich ein peinlicher Fehler: Zum Titel Revery, Langs op. 31, schreibt Lücker: „Wir denken vielleicht beim Lesen des Titels an die berühmte F-Dur-Träumerei aus dem Album für die Jugend op. 68 (1848) von Robert Schumann.“ Die Träumerei ist natürlich aus Schumanns op. 15, den Kinderszenen. Das sollte einem Musikwissenschaftler, der obendrein Pianist ist, nicht passieren.
Dann heißt es, Luisa Adolpha Le Beau sei in „Raststatt“ geboren (S. 41; gemeint ist natürlich Rastatt bei Karlsruhe). Auf Seite 351 wird gar ein Name falsch geschrieben („Minna Keals“ statt „Keal“). Das sind nur einige Beispiele. Und zuweilen ähneln Sätze wie „[Vivian] Fung lebt mit ihrem Ehemann Charles Boudreau, dem gemeinsamen Sohn Julian und Shiba-Hündin Mulan in Kalifornien“ (S. 474) allzu sehr der Klappentext-Vita einer Autorin eher seichter Schriften.
In seinem ansprechenden Vorwort gesteht Lücker (S. 17): „Häufig musste ich über Motivationen, Herkünfte und stilistische Einflüsse etwas spekulieren, wobei mir die Begriffe ‚möglicherweise‘, ‚vielleicht‘ und ‚wohl‘ einen wertvollen Dienst leisteten.“ Das ist grundehrlich, wenn auch nicht unbedingt wissenschaftlich astrein. Auch das Wort „angeblich“ verwendet Lücker bisweilen, und manchmal wird man geradezu nervös, wenn vermeintlich als Faktum Gesichertes und Bekanntes durch ein „angeblich“ wieder in Zweifel gezogen wird: „1902 heiratete sie [Alma Mahler-Werfel] Gustav Mahler, der ihr angeblich das Komponieren untersagte.“ (S. 65)
„Die Frauen geben den Ton an“, wirbt der dem Buch beiliegende Prospekt mit Neuerscheinungen des Verlags. Das Wortspiel darf man unter Schmerzen getrost als PR-Sprech abtun und schnell vergessen. Hier sind es also 250 Komponistinnen, die „den Ton angeben“. Freilich ist das eine zufällig gewählte Zahl, und zwangsläufig fehlen auch bei einer so großen Zahl manche Namen, wie etwa Agata Zubel und die sehr erfolgreiche und häufig gespielte Rebecca Saunders.
Niemand kann alles wissen. Der letzte Universalgelehrte, Gottfried Wilhelm Leibniz, ist schon seit über 300 Jahren tot. 250 Komponistinnen ist aber allemal ein lesens- und lobenswertes Buch, wenn auch mit Schwächen. Vielleicht könnte der Autor selbst den Gegenstand der Kontroverse um sein Buch in einem Statement aufgreifen und Licht in die Sache bringen? Denn schließlich bedankt er sich im Vorwort bei vielen Menschen, ohne deren Vorarbeit „dieses Buch nicht existieren“ würde (S. 18).
Dr. Brian Cooper, 19. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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