Die Beständigkeit einer Illusion

Photos: Kiran West (c)

Hamburgische Staatsoper, 3. November 2021

Trauriges Ende einer großartigen Produktion, die zu Recht „Gesamtkunstwerk“ genannt werden darf. Der begeisterte Applaus galt allen Mitwirkenden, aber deutlich vor allem Alina Cojocaru als Laura und John Neumeier, der zwischen Noten und Worten liest.

von Dr. Andreas Ströbl

Gustav Mahler hat einmal gesagt, dass das Wichtigste in der Musik nicht in den Noten steht. Das Innerste an Psychologie aus einem Bühnenstück zu holen, indem dessen Worte nicht gesprochen, sondern die Handlung getanzt wird, scheint John Neumeiers Ansatz gewesen zu sein, als er die Choreographie für seine Interpretation von Tennessee Williams „Glasmenagerie“ entwarf.

Tatsächlich hat er so etwas im Interview mit Jörn Rieckhoff angedeutet, in dessen weiterem Verlauf er keinen Zweifel daran lässt, dass die zerbrechliche Laura für ihn in seiner persönlichen Rezeption des Dramas eine zentrale Rolle spielt.

Zerbrechlich sind auch Lauras Glastiere, deren Kristallglitzern sie in eine Phantasiewelt hinüberschweben lässt. Schweben kann sie selbst, die herausragend von Alina Cojocaru dargestellt wird, mit ihrer Gehbehinderung nicht; das Hinken hindert das zarte Mädchen daran, selbstbewusst aus der Enge der kaputten Familie hinaus in die Welt zu treten. In dieser wiederum versucht ihr Bruder Tom, sein Leben mit all seinen Enttäuschungen zu bestehen, scheitert aber an der harten Realität und fehlender eigener Standhaftigkeit. Er betäubt seine Verzweiflung über sein Scheitern als Dichter mit Alkohol. Tom ist Félix Paquet, sein alter ego Tennessee, der über sein Leben reflektiert, Edvin Revazov. Beide bilden in völliger tänzerischer Übereinstimmung die komplexe Konstruktion eines Charakters ab, der im Bühnenstück sowohl die Erzählebene übernimmt als auch Akteur ist. „Die Glasmenagerie, Choreographie von John Neumeier nach Tennessee Williams,
Hamburgische Staatsoper, 3. November 2021“
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Sommereggers Klassikwelt 112: Elisabeth Grümmer – eine Agathe für die Ewigkeit

Zur Freude aller Freunde schönen Gesangs ist ihre unverwechselbare, samtweiche und glockenreine Stimme auf vielen Studio- und Live-Aufnahmen erhalten, die zum Teil bis heute Referenz-Aufnahmen sind. Wer einmal ihre Agathe oder Elsa gehört hat, misst später alle anderen Interpretinnen an Elisabeth Grümmer.

Foto: Elisabeth Grümmer © pinterest

von Peter Sommeregger

Die 1911 im Elsass geborene Elisabeth Schilz erlebte unter ihrem Ehenamen Grümmer eine ungewöhnliche und lange Karriere als Opernsängerin, obwohl ihre Lebensplanung ursprünglich ganz anders ausgesehen hatte.

Zur Bühne hatte es die junge Elisabeth schon früh gezogen.  Sie absolvierte eine Schauspielausbildung am Theater in Meiningen und trat bald erfolgreich am Meininger Theater auf. Nach ihrer Heirat mit dem Geiger Detlef Grümmer und der Geburt einer Tochter zog sie sich aber ins private Familienleben zurück. Sie wechselte mit ihrem Ehemann nach Aachen, wo er eine Stellung als Konzertmeister am Stadttheater antrat. „Sommereggers Klassikwelt 112: Elisabeth Grümmer- eine Agathe für die Ewigkeit,
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Eine großartige Tänzerin hört in Hamburg auf: Hélène Bouchet

Foto: Ralf Wegner

Staatsoper Hamburg, 10. November 2021
Hamburg Ballett, Glasmenagerie

Am Ende galt der Jubel des Publikums vor allem ihr, die sich mit ihren tänzerischen Interpretationen in die erste Reihe der großen Tänzerpersönlichkeiten des Hamburger Balletts einreiht.

von Dr. Ralf Wegner (Fotos und Text)

Hélène Bouchet gelangte 1998 vom English National Ballet nach Hamburg, 2003 wurde sie Solistin, 2005 Erste Solistin. Am Ende des Jahres hört die am 2. Oktober 1980 in Cannes geborene Tänzerin auf und widmet sich anderen Aufgaben. Gut 120mal haben wir sie in Solopartien tanzen sehen.

Immer mit großer Bühnenpräsenz, ausdruckstark und immer erkennbar an ihren raumgreifenden Bewegungen. Mit den ihr von der Natur mitgegebenen langen Armen entwickelte sie sich zu einer Königin der Ports de bras.

Hélène Bouchet in Ghost Light (© Kiran West), Ausschnitt

Darüber hinaus war sie eine intensive Darstellerin, die 2015 als Désirée von Wertheimstein in Neumeiers Ballett Duse mit minimalistischen Bewegungen, aber starkem inneren Ausdruck die Augen auf sich zog. Bouchet imponierte mehrfach als Desdemona in Neumeiers Otello, so 2009 und 2010 im Zusammenspiel mit Otto Bubenicek und 2016 mit Carsten Jung; die Julie in Liliom legte sie weniger introvertiert, mehr selbstbestimmt als Alina Cojocaru an (2011 mit Ivan Urban als Liliom). „Hélène Bouchet, Ballett von John Neumeier, Choreographie Die Glasmenagerie nach Tennessee Williams,
Hamburger Staatsoper, 10. November 2021“
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Die DIENSTAG-PRESSE – 9. NOVEMBER 2021

Foto: Quelle: www.berliner-philharmoniker.de

Für Sie und Euch in den Zeitungen gefunden:
Die DIENSTAG-PRESSE – 9. NOVEMBER 2021

Warum kündigt jemand beim besten Orchester der Welt?
Der Fagottist Mor Biron will nach 15 Jahren im Orchester nicht länger Mitglied der Berliner Philharmoniker sein. Er hat gute Gründe dafür.
Tagesspiegel.de

Wiesbaden
„Tristan und Isolde“ ertrinken in der Bilderflut

Uwe Eric Laufenberg inszeniert, Michael Güttler dirigiert Wagner in Wiesbaden: Buhrufe für die Regie und Begeisterung für Solisten, Dirigent Michael Güttler und das Staatsorchester. „Güttler dirigiert Wagner in Wiesbaden“, „Begeisterung für Solisten, Dirigent Michael Güttler und das Staatsorchester“, „Wunderwerk“, „Melancholie jener existenziellen Einsamkeit, die das Staatsorchester unter Michael Güttler zu Beginn des dritten Aufzugs so eindringlich beschwört“, „von Güttler und dem Staatsorchester so präzise wie leidenschaftlich ausformulierte Sehnsuchts-Harmonik“.
Allgemeine-Zeitung.de

München
Kritik – Akademiekonzert an der Bayerischen Staatsoper mit Jurowski. Viel mehr als ein bloßes Konzert
Am Sonntagabend dirigierte Vladimir Jurowski das zweite Akademiekonzert der Saison an der Bayerischen Staatsoper – nur mit Werken von Schostakowitsch, alle entstanden zwischen 1924 und 1929 und somit aus nur einer Periode seines Schaffens. In dem dreistündigen Konzert kam man dem Komponisten menschlich erstaunlich nah. Damit erfüllen Serge Dorny und Vladimir Jurowski ihre Ankündigung, das Haus gerade mit ausgefallenem Repertoire weiter zu öffnen.
BR-Klassik.de

Deutschland
Moderne Opernhäuser – baulich fit für die Zukunft?
Um die 80 Theater und Opernhäuser wurden in der frühen Bundesrepublik und in der DDR nach dem Krieg gebaut – so viele wie nie zuvor und vermutlich nie danach. Mittlerweile sind diese Bauten in die Jahre gekommen und sind Teil einer gänzlich veränderten Gesellschaft.
mdr.de

Düsseldorf
Düsseldorfer Kulturhäuser klagen über zu wenige Besucher
Längst sind die Düsseldorfer Konzertsäle wieder geöffnet, auf den Programmen stehen Konzerte und Lesungen. Viele Plätze aber bleiben wegen mangelnder Nachfrage noch leer.
rp-online.de „Die DIENSTAG-PRESSE – 9. NOVEMBER 2021“ weiterlesen

Entdeckung: Das Medium ist eine Praline der Gattung Gruseloper

Foto: Anna Agathonos © Marie-Laure Briane

Kammeroper von Gian Carlo Menotti
Deutsch von Werner Gallusser

Staatstheater am Gärtnerplatz, Premiere am 02. November 2021

von Barbara Hauter

Rechtzeitig zur Halloween-Zeit öffnet uns das Gärtnerplatztheater München die Tore zur Anderwelt. Wir steigen hinab in die Katakomben des Hauses, flankiert von dunkel-livrierten Theaterdienern, nehmen Platz mitten im schummrig abgedunkelten Wohn- und Arbeitszimmer von Madame Flora, dem Medium, einer Meisterin des Spiritismus.

Rote Lämpchen an den Wänden, über dem großen runden Holztisch ein plüschiger Lampenschirm mit Kordeln und Troddeln, ein sakral anmutender Kelch. Die Atmosphäre ist intim, wir 87 Zuschauer im Kreis um die Studiobühne sitzend werden Zeugen einer Seance. Madame Flora empfängt verwaiste Eltern, fällt in Trance, beschwört die Geister der früh verstorbenen Kinder. Das ist ihr Geschäftsmodell, sie macht vor uns Zuschauern keinen Hehl daraus, dass ihre spirituellen Sitzungen eine Show sind. Der Tisch hebt sich genauso auf Knopfdruck wie die Lämpchen zu flackern beginnen und Rauch aus dem Kelch steigt. Ihre beiden Kinder, Monica und der angenommene, stumme Zigeunerjunge Toby assistieren ihr fleißig.

Elaine Ortiz Arandes © Marie-Laure Briane

 

Christian Schleinzer, Andreja Zidaric © Marie-Laure Briane

Madame Flora tut alles für das Überleben ihrer kleinen Familie, pragmatisch und fest in der Realität verankert. Doch während der Seance spürt sie plötzlich eine kalte Hand an ihrem Hals. Sie gerät in Panik. Die Wirklichkeit scheint nicht mehr fest gefügt. War es ein Geist? Oder doch Toby, dem sie plötzlich nicht mehr traut? Oder entstammt die Sensation ihrem Alkoholrausch? Halb wahnsinnig schreit sie Toby an: Warst Du es? Doch der Junge bleibt stumm.

„Gian Carlo Menotti, Das Medium,
Staatstheater am Gärtnerplatz, München, 02. November 2021“
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"Nabucco": Keine Glanznummer im Haus am Ring - Anna Netrebko fehlte an allen Ecken und Enden

Wiener Staatsoper: NABUCCO von Giuseppe Verdi, 1. November 2021
80. Aufführung in dieser Inszenierung

Eine durchwachsene Vorführung mit einem extrem schwachen Massimo Giordano (Ismaele), einer, wenn überhaupt mittelprächtigen und anfangs extrem schwachen María José Siri als Abigaille – die einer Anna Netrebko, die hätte singen sollen, nicht ansatzweise das Wasser reichte – und zwei sehr starken Männern: dem Mongolen Amartuvshin Enkhbat bei seinem Staatsoperndebüt als Nabucco und Roberto Tagliavini als stimmstarker, eindringlich mahnender Hohepriester Zaccaria… erlebte Herausgeber Andreas Schmidt in der Wiener Staatsoper. Die ersten beiden Akte gerieten musikalisch aber nur recht seelenlos. Bitte lesen Sie, wie Manfred A. Schmid die Vorführung erlebt hat…

Foto: Amartuvshin Enkhbat (Nabucco), María José Siri (Abigaille). Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

von Manfred A. Schmid (onlinemerker.com)

132 Jahre hat es gedauert, bis die Oper Nabucco, mit der Verdi der Durchbruch gelang, Eingang ins Repertoire der Staatsoper finden sollte. Die Inszenierung von Günter Krämer, dem zur Geschichte der Rettung des jüdischen Volkes aus babylonischer Gefangenschaft erschreckend wenig eingefallen ist, stieß 2001 allerdings mehrheitlich auf Ablehnung. Vor allem die meist in Dunkelheit getauchte Bühne von Petra Buchholz und Manfred Voss, nur durch die Projektion hebräischer Texte zuweilen etwas aufgelockert, befriedigt nicht. Dass sich die Produktion dennoch auf dem Spielplan behauptet hat, liegt an der gelungenen Personenführung (der Hauptakteure, leider nicht der Massen, die meist nur herumhocken) sowie nicht zuletzt daran, dass das Bühnenbild so belanglos ist, dass es die Handlungsverläufe weder stört noch die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dafür ist man heutzutage, besonders seit dem Amtsantritt des jetzigen Direktors, schon unendlich dankbar. „NABUCCO von Giuseppe Verdi
Wiener Staatsoper, 1. November 2021“
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Petrenko tanzt

Foto: © Monika Rittershaus

Berlin Philharmonie, 27. Oktober 2021

Felix Mendelssohn Bartholdy
Symphonie Nr. 3 a-Moll op.56

Dmitri Schostakowitsch
Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93

Berliner Philharmoniker
Dirigent Kirill Petrenko

von Peter Sommeregger

Gemeinsam ist diesen beiden Symphonien doch sehr unterschiedlicher Epochen, dass sie  in Moll geschrieben sind und in ihren ersten Sätzen eine gewisse, zur Jahreszeit passende Düsternis ausstrahlen, die sich erst im späteren Verlauf der Werke aufhellt und auch tänzerische Elemente beinhaltet. Diese Parallelen mögen Kirill Petrenko bewogen haben, sie in diesem Konzert gegenüberzustellen. „Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko,
Berlin Philharmonie, 27. Oktober 2021“
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CD-Rezension: A Tribute to Paco de Lucía

Sieben Jahre nach Pacos Tod stellt diese CD eine Hommage der besonderen Art dar. Komponisten wie Ausführende haben erfolgreich versucht, den Geist dieser Legende zu beschwören und in seinem Sinne alte Traditionen mit neuen Inhalten zu füllen.

Eos Guitar  Quartet, El alma de Paco

Solo Musica

eos 23420016

von Peter Sommeregger

Diese neue CD des Eos Guitar Quartet ist dem Andenken des legendären Gitarristen Paco de Lucía gewidmet. Das umfangreiche, einleitende Stück gibt der CD ihren Namen und ist Programm. Mit dem lauten Ausruf „Paco“ am Ende greifen die Musiker des Quartetts auf eine Tradition bei Live-Auftritten Paco de Lucías zurück, wo das begeisterte Publikum den Namen ihres Idols begeistert ausrief.

Das Ensemblemitglied Marcel Ege ist mit insgesamt drei  Kompositionen auf der CD vertreten. Neben „Medianoche“ und dem Tanzstück „El alba“ das Stück „Paquiro“, das seinen Ursprung in dem populären Liederbuch von Federico García Lorca hat. In diesem Stück ist als Gesangsolistin  die legendäre Carmen Linares zu hören, deren Stimme etwas rau und verbraucht, aber sehr passend zu dieser Musik klingt. Sie ist ebenfalls Solistin bei dem Stück „Aixa, Fatima y Marien“ von David Sautter, das gleichfalls auf einem Lied García Lorcas basiert.

Außerdem sind drei neu bearbeitete Tänze von Manuel de Falla zu hören. Einen Höhepunkt stellt die dreiteilige Suite „El quejio del poeta duende- In Memoriam Paco de Lucía“ des Kubaners Leo Brouwer dar, der darin dem legendären Gitarristen ein musikalisches Denkmal setzt.

Als letztes Stück des Albums ist „Sonando con el sonido“ zu hören, eine für das Quartett von John McLaughlin geschriebene Komposition. Er hatte in der Vergangenheit mit Paco de Lucía zusammen gearbeitet und reflektiert in dem Stück darüber.   „CD-Rezension: Eos Guitar Quartet, El alma de Paco
klassik-begeistert.de“
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Strahlendes Nordlicht!

Nicht wenige aus dem beseelten Publikum hätten nach dem langanhaltenden Applaus gerne gleich eine Fähre nach Oslo oder Helsinki bestiegen.

2. Symphoniekonzert in der Musik- und Kongresshalle Lübeck (MUK),
25. Oktober 2021

Foto: Lilya Zilberstein, © ANDREJ GRILC

Jean Sibelius: Karelia-Suite op. 11
Edvard Grieg: Klavierkonzert a-Moll op. 16
Niels Wilhelm Gade: Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 20
Jean Sibelius: Finlandia op. 26

Leitung: Takahiro Nagasaki
Klavier: Lilya Zilberstein

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

von Dr. Andreas Ströbl

Leidenschaftliche Rhythmik und aufbrandende Emotionen sind nicht gerade das, was man mit dem Adjektiv „nordisch“ assoziiert. Aber genau das gab es mit Entschiedenheit im 2. Lübecker Symphoniekonzert, dem musikalischen Begleitprogramm zur „Nordischen Woche“, die heuer ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. Diese Veranstaltung sollte nach dem Ersten Weltkrieg die jahrhundertalten Beziehungen Lübecks zu den skandinavischen Nachbarn wieder mit Leben erfüllen.

Quicklebendig präsentierte sich sowohl programmatisch als auch von der spielerischen Darbietung her das Konzert in der Musik- und Kongresshalle, die endlich wieder ihrem eigentlichen Zweck dienen darf, nachdem sie die Corona-Zeit hindurch das zentrale Impfzentrum der Hansestadt war. „Takahiro Nagasaki, Lilya Zilberstein, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck“ weiterlesen

Ein begeisternder Abend der Spitzenklasse! Die Kunst des Daniil Trifonov

Foto: Daniil Trifonov © Dario Acosta

Johann Sebastian Bach, Die Kunst der Fuge
Daniil Trifonov, Klavier

Philharmonie Berlin, 25. Oktober 2021

von Peter Sommeregger

Johann Sebastian Bachs monumentales Spätwerk „Die Kunst der Fuge“ war und ist immer ein Prüfstein für den Grad der Reife die ein Pianist erreicht hat. In den etwa 70 Minuten der Spieldauer muss der Interpret alle Register seines Könnens ziehen. Daniil Trifonov ist seit dem Gewinn der Klavierwettbewerbe in Tel Aviv und Moskau vor zehn Jahren vom Geheimtipp der Klavierszene praktisch zum prominentesten Virtuosen, nicht nur seiner Altersklasse, gereift. Es ist nur logisch, dass er sich nun auch des Klavierwerkes von Bach annimmt.

Mit einem kräftigen Akkord beginnt er die an den Anfang gestellte „Chaconne aus der Partita d-Moll für die linke Hand“. Dieses von Johannes Brahms für Klavier bearbeitete Werk hat einen hohen Schwierigkeitsgrad und zeigt Trifonov bereits auf der Höhe seines Könnens.

Ohne Übergang steigt er anschließend in das komplexe Hauptwerk des Abends ein. Wer befürchtet hatte, dass sich eventuell eine gewisse Monotonie in dem doch sehr langen Stück bemerkbar machen könnte, wurde positiv enttäuscht. Trifonov stürzt sich mit Elan in die Bach’sche Klangwelt und entlockt dem großen Steinway-Flügel einen selten gehörten Farbenreichtum.

Er versteht es seinen Anschlag zart wirken zu lassen, wobei der notwendige Nachdruck stets gegeben ist. Es gelingt ihm, die zahllosen Variationen des Hauptthemas deutlich zu verfremden, und sorgt damit für eine unerwartete Kurzweiligkeit seiner Interpretation. „Johann Sebastian Bach, Daniil Trifonov
Philharmonie Berlin, 25. Oktober 2021“
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