Wiener Konzerthaus: Herreweghe verwandelt den Großen Saal in eine Kathedrale

Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 2. Februar 2018
Collegium Vocale Gent, Chor und Orchester
Philippe Herreweghe, Dirigent
Dorothee Mields, Sopran
Alex Potter, Countertenor
Thomas Hobbs, Tenor
Peter Kooij, Bass

Johann Sebastian Bach
Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben BWV 102 (1726)
Herr, gehe nicht ins Gericht BWV 105 (1723)
Messe A-Dur BWV 234 (um 1735)

von Jürgen Pathy

Wenn der Hohe Priester der alten Musik und sein 1970 gegründetes Ensemble rufen, dann strömen die Liebhaber der barocken Musik in Scharen in die Konzertsäle und erwarten Großes – so war es auch am Freitagabend im voll besetzten Wiener Konzerthaus.

Philippe Herreweghe, 70, gilt unter Fachleuten als der Bach-Spezialist schlechthin. Mit keinem anderen Komponisten assoziiert man den belgischen Dirigenten so stark wie mit Johann Sebastian Bach.

Den Abend eröffnen Herreweghe und sein Collegium Vocale Gent mit der Bach‘ schen Kirchenkantate „Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben“ (BWV 102) aus dem Jahre 1726. Selbstverständlich musiziert das Ensemble auf historischen Instrumenten – obwohl Herreweghe sich nicht als „Ajatollah in diesen Sachen“ sehen möchte, findet er Bachs Musik „viel schöner auf diesen Instrumenten“. Der englische Countertenor Alex Potter und der Solo-Flötist des Ensembles verleihen der bezaubernden Alt-Arie „Weh der Seele, die den Schaden nicht mehr kennt“ ihre feinfühlige Ausdruckskraft und versetzen das Publikum in einen meditativen Ruhezustand. Nach dieser unaufdringlichen aber anstrengenden Glanzleistung darf sich der Flötist wohlverdient einige Schweißperlen von seiner Stirn wischen.

Mit der Kirchenkantate „Herr, gehe nicht ins Gericht“ (BWV 105) wird dieser meditative Zustand aufrechterhalten, und der prachtvolle Große Saal gleicht unter diesen himmlischen Klängen immer mehr einer Kathedrale. Plüsch-weich und mit honigsüßen Pianissimi untermalen die Streicher den durchwegs außergewöhnlichen Gesang – von der Sopran-Arie „Wie zittern und wanken, der Sünder Gedanken“ über das rührende Bass-Rezitativ bis hin zur Tenor-Arie „Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen“.

Da stimmt es einen sehr traurig, dass die Pause diesen fragilen Zauber zum Erlöschen bringt.

Für den zweiten Teil des Abends wählte Herreweghe eine der vier Kurzmessen von Johann Sebastian Bach: die Messe in A-Dur (BWV 234), die Bach während seiner Zeit als Thomaskantor in Leipzig geschrieben hat. Von 1723 bis zu seinem Tode im Jahre 1750 bekleidete er diese prestigeträchtige Position. Aus diesem Zeitraum stammen auch die beiden Kirchenkantaten.

Die A-Dur Messe verströmt eine etwas andere Atmosphäre, beginnt sie doch mit einem beschwingten ersten Kyrie. In weitgehend homophonen Blöcken wechseln sich der Chor und das Orchester ab – im Gegensatz zum ersten Programmteil nun mit neuer Orchesterbesetzung: unter anderem zwei Querflöten anstatt der Flöten.

Obwohl Kritiker laut dem Pianisten András Schiff lieber schweigen sollten, anstatt an Bachs Werken kein gutes Haar zu lassen, fällt die Bass-Arie zu lang aus, und kurzfristig setzt Langeweile ein – im unruhiger werdenden Publikum könnte man diese These als bestätigt sehen. Am hervorragenden niederländischen Bass Peter Kooij, 63, liegt es definitiv nicht, denn mit seiner agilen, lyrischen Stimme kann er Bachs Kirchenwerke perfekt präsentieren.

Alle Solisten wissen an diesem Abend zu überzeugen, und nach ihren Soloparts fügen sie sich jedes Mal nahtlos in den schlank besetzten Chor ein: In Summe sind es vier Frauenstimmen plus dem Countertenor und sieben Männerstimmen, die den großen Saal mit einem Fassungsvermögen von 1865 Plätzen leicht ausfüllen.

Eine überzeugende Darbietung liefern auch die Sopranistin Dorothee Mields, 46, die als eine der führenden Sängerinnen der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts gehandelt wird, und der englische Tenor Thomas Hobbs.

Der Hohe Priester und seine Jünger überzeugten nicht nur im Sinne der Bach‘ schen Werke, sondern auch der Hausinschrift des Wiener Konzerthauses – Ehrt eure deutschen Meister, dann bannt ihr gute Geister –, und verwandelten den Konzertabend in einen ätherischen Gottesdienst.

Bleibt nur zu hoffen, dass Philippe Herreweghe die vielen Reisestrapazen auch weiterhin mit einem „Powernap“ bewältigen wird, den er laut eigenen Aussagen kurz vor den Auftritten regelmäßig hält. Nächste Gelegenheiten bieten sich ihm ab 13. Februar 2018 in Dresden, wo er in der Semperoper die „Johannes-Passion“ umsetzen wird – wieder mit dabei sein werden Teile des Collegiums Vocale Gent als auch Dorothee Mields und Peter Kooij.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 3. Februar 2018, für
klassik-begeistert.at

Foto:  Michiel Hendryckx

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