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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Helden- und Legendengeschichten faszinieren die Menschen seit jeher. Ob durch übermenschlich erscheinende Größe der Heldengestalt, die durch eine Legende transportierte Moral oder einfach die Faszination am Leben anderer – wir wäre so viel ärmer, hätten wir nicht diese Ideale, um uns zu orientieren. Es ist also nur konsequent, dass auch in dieser Kolumne bereits über Komponisten berichtet wurde, die sich mit Helden und Legenden auseinandergesetzt haben. Auch der heutige Beitrag befasst sich mit einem jener Komponisten, die diesen Stoff aufgegriffen haben: Eduard Tubin.
Der 1905 in Torila, Estland, geborene Tonkünstler ist bei uns nahezu unbekannt. Dabei spielt der ab 1944 nach Schweden ausgewanderte und dort auch 1982 verstorbene Komponist gerade für die baltischen Staaten eine große Rolle. Denn mit seiner zweiten Sinfonie soll er die erste „moderne“ Sinfonie Estlands geschaffen haben. Und das auch noch unter einem wegweisenden Titel. Das „Legendäre“, dem er sich hier widmete, weckt sofort Assoziationen an Heldenkompositionen, wie Beethovens Eroica, das Heldenleben von Richard Strauss oder (bei uns kaum bekannt) beispielsweise die zweite Sinfonie von Weli Muhadow. Tatsächlich soll Tubin auch geäußert haben, hier heroische Legenden vertont zu haben.
Leider aber fehlen deutschsprachige Quellen, die über Details aufklären. Obwohl die esthnische Mythologie voll mit potenziell passenden Helden- und Fabelgeschichten ist, bleibt es an dieser Stelle bei Spekulationen um Tubins Inspirationsquelle. Neben dem modernen Klangcharakter bleibt sein Werk daher auch (zumindest für uns) ein gewisses Mysterium. Aber immerhin klären englischsprachige Texte – beispielsweise eine ausführliche Erörterung von Kerri Kotta – darüber auf, dass Tubins Musik nicht nur eine strukturelle, sondern auch eine inhaltlich/dramaturgische Idee aufweist. Und weil sich diese Idee auch in dieser Sinfonie intuitiv wiedererkennen lässt, ist sie meiner Meinung nach ein hörenswertes Werk.
So bestimmt das Hauptthema – laut dem Musikwissenschaftler Pärtlas das „legendäre Thema“ – die Entwicklung im ersten Satz. Zuerst wird das „legendäre Thema“ in seinen Satzkontext eingeführt bzw. verarbeitet. Dann folgt eine Exposition des Hauptthemenbereichs und anschließend des Nebenthemenbereichs. Da sich beide aus dem Hauptthema ergeben, sprechen weitere Quellen, wie Kerri Kotta, explizit von Themenbereichen im Gegensatz zu den für eine Sonatenhauptsatzform typischen Themen. Kotta nennt diese Verarbeitungen auch „Rotationsform“. Ein Prinzip, dass er in allen drei Sätzen meint nachweisen zu können. Nach seiner Analyse erfolgt es viermal über das gesamte Werk verteilt: Einmal zum Beginn von Satz 1, das zweite Mal überlappend vom ersten zum zweiten Satz, dann noch einmal getrennt im zweiten und einmal im Finalsatz als abschließende Coda.
Jenseits dieser technischen Beschreibungsweise beginnt der erste Satz mit seinem hohen Streicherthema (dem „legendären Thema“) zunächst sehr ambitioniert und steigert sich schnell in eine Fontäne geballter Spannung. Wie in einem impressionistischen Fluss schwellt die Musik wiederholt an, nur um dann wieder abzuebben. Mal geschieht dies quälend langsam aber gleichzeitig majestätisch. Mal prescht das Orchester auf einen richtigen Gänsehautmoment zu. Spannend ist auch, wie Tubin das Klavier vor allem in den leisen Stellen durchbrechen lässt. Das passt perfekt zum flirrenden Ausklang des ersten Satzes, der ebenfalls Übergang in den zweiten Satz ist.
Im Gegensatz zu Kotta erkenne ich den roten Faden nicht in den so genannten Themenbereichen, sondern im steten Trabrhythmus. Auch die Schlussfolgerung, dass die zweite Rotationsform vom ersten in den zweiten Satz übergreift, mag zwar akademisch begründet sein. Intuitiv vom Gehör ist mir das aber nicht nachvollziehbar. Ich stimme ihm daher insofern zu, als dass Tubins Musik formal andersartig ist, als die Sonatehauptsatzform.
Ein klares Thema aber, das Kotta nicht benennt, ist spätestens ab dem zweiten Satz erkennbar. Die hier leitmotivisch fungierende Tonabfolge Cis-H-Cis-G erinnert stark an das Dies irae – den Hymnus des Jüngsten Gerichts, bekannt aus zahlreichen weiteren Werken, u.a. von Süßmayr und Mozart, Verdi, Berlioz, Saint-Saëns, Mahler, Britten und vielen mehr. Schade, dass die mir verfügbaren Quellen dieses Motiv unbeachtet lassen. Denn vom ersten Moment an bestimmt es erst als leiser Paukenrhythmus, dann als stete Bassfigur im sich auftürmenden Sturm die Entwicklung. Wild, fast schon brachial leitet es in ständigem Crescendo von Trommelwirbeln begleitet in einen furiosen Satzhöhepunkt, auf den in fahle Streicherfiguren gleitendes Ausklingen folgt. Da rollt es einem die Fingernägel hoch!
Der Einstieg in den dritten Satz durch seine Blechbläserfanfare und das tiefe Klavier als rhythmusgebendes Element greift diese Schlussfigur von Satz 2 auf. Angereichert mit diesem rhythmischen Moment entsteht daraus schnell ein eigener Fluss, der sich vollendet, als Klarinetten und Becken den Rhythmus übernehmen, während die Streicher ihre flitzenden Figuren vorantreiben. Auch diese erkennbar leitrhythmische Figur gibt ihrem Satz den roten Faden. Ein einziges Motiv, das quer durch alle Stimmungen schreitet. Und was dieses Werk abrundet ist, dass dieses Motiv bereits als Ende des „legendären Themas“ aus dem ersten Satz vorbereitet wurde. Eine Realisierung, als würde einem eine kalte Dusche über den Rücken laufen.
Und Tubin kostet dieses legendäre Element in einem fast militaristischen Stampfen richtig aus. Das hat schon etwas Brutales, als dann auch noch das Tamtam einsetzt. Ist das die Entscheidungsschlacht eines Helden? Oder der tosende Untergang? Auch hier endet Tubin nicht furios, sondern lässt die Musik wie schon in Satz 1 wieder abebben und in seinen Leitrhythmus zurückkehren. Als wäre damit noch nicht alles gesagt, beginnt er in einem Duett aus Klavier und Violine einen neuen Formteil, der wie eine Reminiszenz der Streicherfiguren aus dem zweiten Satz anmutet.
Diese kurze Zwischenpartie entfaltet sich aber nicht. Stattdessen kehren die Pauken mit dem tosenden Legendären-Rhythmus zurück, während die Trompeten erneut das Motiv aufgreifen. Doch dann überrascht er: Schillernde Streicherfiguren setzen ein und lassen einen flirrenden, fast schon verklärenden Klangteppich sprießen. Dem Gedächtnis dürfte es an dieser Stelle bereits entfallen sein, doch beim erneuten Anhören fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass es sich hierbei um den Einstieg in den ersten Satz handelt. Damit vollzieht er tatsächlich eine Wiederkehr zum Anfang, als würde sich ein Kreis schließen. Mit dieser Klangsphäre endet die Sinfonie auch sehr überraschend aber nicht minder eindrucksvoll. Wie ein Nachruf auf eben jenes Legendäre. Ein faszinierendes Erlebnis.
Obwohl dieses Werk ein gewisses Rätsel bleibt, lassen sich doch Elemente nachvollziehen, die dem Legendären zugeordnet werden können. Dazu gehören die häufig schmetternden Trompetenfanfaren, immer wieder vor Kraft strotzende Ausbrüche, marschartige Rhythmen und ein gewisses Pathos, wenn auf energiegeladene Kraftausbrüche im Orchester sanfte Ruhe folgt. Mich fasziniert dieses Werk ungemein. Auch deshalb möchte ich eine Lanze dafür brechen. Wenn also mal wieder ein Experiment auf den Spielplan soll, warum dann nicht ein Werk, das für sich genommen eine rote Linie erkennen und dadurch eine Geschichte erahnen lässt? Geben wir Eduard Tubins Legendären mal eine Chance!
Daniel Janz, 23. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“
Daniels vergessene Klassiker Nr 16: Dmitri Schostakowitsch – Violinkonzert Nr. 2 (1967)