Foto: Die Tuchhallen am Marktplatz in Krakau, Wikipedia
von Jolanta Łada-Zielke
Als Sir John Eliot Gardiner in der Elbphilharmonie am 11. Mai 2023 mit dem Royal Concertgebouw Orchestra aufgetreten ist, war er wegen wiederholten Hustens im Publikum so verärgert, dass er mit dem Abbruch des Konzerts drohte. Deshalb bat der Intendant Christoph Lieben-Seutter die Zusschauer vor dem Beginn des zweiten Konzertabends mit dem gleichen Programm: „Wenn jemand hustet, bitte nicht nachmachen!“
Dieses Ereignis erinnert mich an eine amüsante Begebenheit aus der Zeit, als ich noch in Krakau lebte. Als Studentin der Władysław-Żeleński-Musikschule und später als Journalistin und Kulturreporterin besuchte ich fast alle Musik- und Theaterveranstaltungen sowie Ausstellungen in meiner Stadt. Bei solchen Gelegenheiten begegnete ich häufig denselben Menschen.
Zu ihnen gehörte eine ältere Dame mit üppigem, grauem Haar und einer Brille, deren Gläser einem Glasboden ähnelten. Diese Frau hatte einen ständig unzufriedenen Gesichtsausdruck und belehrte diejenigen, die sich ihrer Meinung nach unangemessen verhielten. Sie nutzte jede Gelegenheit dazu und tat dies meist unangenehm, fast aggressiv. Aufgrund ihrer Frisur nannte man sie „Siwa“ (die Grauhaarige) oder „Czubiasta“ (Spitzfrisör). Ich habe einmal zufällig erfahren, dass diese Dame sogar kostenlose Einladungen zu den Events von den kulturellen Institutionen beanspruchte.
Bei Konzerten oder Opernaufführungen saß sie immer in der ersten Reihe. Mit der Zeit wurde diese Person in der Krakauer Kulturwelt so bekannt, dass ihre Anwesenheit bei einem bestimmten Musik- oder Theaterereignis den Bekanntheitsgrad erhöhte. Im künstlerischen Milieu kursierten zahlreiche Anekdoten über sie.
Mein erstes Treffen mit ihr begleitete eine lustige Situation. Es war im Dezember 1997 und ich befand mich im letzten Jahr meines Gesangsstudiums. Eines Abends besuchte ich ein Konzert von dem Orchester Capella Cracoviensis im Nationalmuseum in den Sukiennice (Tuchhallen), das der mir bekannte Dirigent Tomasz Chmiel leitete. Ich kannte ihn aus der Zeit, als er noch an der Krakauer Musikakademie studierte, denn ich sang in dem von ihm gegründeten Vokal-Instrumental-Ensemble „Inquiro“. Wir nahmen mit ihm am Festival geistlicher Musik in Stalowa Wola teil, wo wir zweimal den Preis gewannen – 1989 und 1990. Dank Tomasz begann ich, das Singen zu lernen. Die Proben unseres Ensembles fanden manchmal bei ihm zuhause statt, und dann lernte ich seine Eltern kennen.
Beim Konzert in einem Saal des Nationalmuseums in Krakau setzte ich mich in die erste Reihe. Dort gab es keine erhöhte Bühne, das Orchester saß auf der gleichen Ebene wie das Publikum. Neben mir nahm diese alte Dame mit grauen Haaren und einer Brille mit starken Gläsern Platz. Zu Beginn spielte das Orchester die „A-Dur Serenade Nr. 2, op. 16“ von Johannes Brahms. Bei diesem Stück hustete ein Zuschauer direkt hinter uns, nur zweimal und nicht besonders laut. Meine Nachbarin drehte den Kopf zu ihm und zischte. Die Serenade war zu Ende und die Musiker begannen, die Instrumente neu zu stimmen. Die Frau nutzte diesen Moment, um diesem Mann zu sagen, dass sie es nicht mag, wenn jemand so über ihren Kopf hinweg hustet.
„Was soll ich denn tun?“, fragte er ratlos.
„Dann gehen Sie bitte nicht auf Konzerte!“, entgegnete sie schroff, „An Ihrer Stelle, hätte mich in Grund und Boden geschämt!“
Das Husten dieses Herrn störte die Musiker des Orchesters offenbar nicht. Als jedoch die verärgerte Musikliebhaberin ihren Unmut äußerte, drehten zwei Geiger und ein Cellist ihre Köpfe zu ihr. Wer stört hier wen, dachte ich.
”Ich würde mich aber schämen, so mit jemandem zu reden“, flüsterte eine Studentin auf meiner anderen Seite zu ihrer Nachbarin.
Dann fiel mir etwas auf. Aus dem Augenwinkel schaute ich diesen Mann an, der gerade Ärger gekriegt hat, und sein Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor.
Nach dem zweiten Stück – Concertino für Klarinette Es-Dur von K.M. Weber – gab es eine Pause, in der ein Teil des Publikums – darunter meine verärgerte Nachbarin – ins Foyer ging. Und erst in diesem Moment dämmerte es mir, woher ich den Herrn mit den Hustenanfällen kannte: Er ist der Vater von Tomasz! Also wandte ich mich ihm zu, begrüßte ihn und wir kamen ins Gespräch. In der Zwischenzeit kam die Grauhaarige zurück, setze sich wieder hin und begann unwillkürlich unsere Unterhaltung zu belauschen.
„Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Sohn, weil er wirklich ausgezeichnet dirigiert.“, sagte ich betont, um dieser Dame zu verstehen zu geben, mit wem sie sich angelegt hat, „Tomasz hat sowohl Brahms als auch Weber genau richtig interpretiert. Was für eine wunderbare Aufführung!“
Zwei Studentinnen, die das Ganze mitbekommen haben, kicherten.
„Übertreibung“ – murmelte die Grauhaarige, sagte aber kein Wort mehr. Herr Chmiel-Senior hustete jedenfalls nicht mehr.
Nach dem Schlussakkord des letzten Werks dieses Konzerts – der Mozart D-Dur Symphonie (Prager Symphonie) – als der Applaus einsetzte, sprang meine Nachbarin sofort aus ihrem Platz und lief weg, als ob jemand hinter ihr her wäre.
Natürlich mögen einige diesen Vorfall amüsant finden und andere das Gegenteil. Ich selbst hatte vor acht Jahren im Festspielhaus in Bayreuth einen Hustenanfall. Damals gab mir einer meiner Nachbarn ein Kräuterbonbon, das mir half. In der Elbphilharmonie stehen Körbchen mit solchen Bonbons auf jeder Garderobentheke und man kann sich gerne bedienen. Es lohnt sich, diese Gelegenheit zu nutzen. Man muss nur aufpassen, sich nicht an den Bonbons zu verschlucken – wie es bereits Loriot als Thema für einen Sketch verwendet hat.
Jolanta Łada-Zielke, 28. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anläßlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.
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