11.09.2020, Bayreuth, Markgräfliches Opernhaus, Bayreuth Baroque, Gismondo, Foto: Andreas Harbach
von Jolanta Łada-Zielke
Eines der wichtigsten Musikereignisse dieses Jahres war die Konzertaufführung des Dramma per Musica „Gismondo, re di Polonia” (Sigmund, König Polens) im Rahmen des „Bayreuth Baroque Opera Festival“ am 11. September 2020. Als ich den Titel des Drammas hörte, freute ich mich darauf, ein weiteres Stück kennenzulernen, das ein bestimmtes Thema aus der polnischen Geschichte aufgreift. Ich erwartete, dass der Komponist Leonardo Vinci (1690-1730; nicht Leonardo da Vinci) wie sein späterer deutscher Kollege Ferdinand Pfohl (1863-1949) ein Libretto vertonen würde, dessen Inhalt sich auf die Regierungszeit von König Sigismund II. Augustus bezieht. Stellen Sie sich meine Enttäuschung vor, als ich herausgefunden habe, dass mit dem Namen „Gismondo“ eine Figur gemeint ist, die dem 1699-1730 regierenden König von Dänemark und Norwegen Friedrich IV. Oldenburg ähnelt, um ihn auf diese Art und Weise zu ehren. Laut dem Autor des Librettos, brauchte das Publikum eine Verbindung mit der Gegenwart, weshalb er zwei Herrscher nordeuropäischer Länder in polnische Kostüme kleidete und ihnen polnische Namen gab.
Leonardo Vinci komponierte diese Barockoper in drei Akten zum Libretto eines unbekannten Dramaturgen. Der Text des Librettos wurde nach Francesco Silvanis „L’innocenza giustificata“ von Francesco Briani eingerichtet. Die Uraufführung von „Gismondo“ fand 1727 in Rom im Theatro Delle Dame statt. Die Bayreuther Produktion wurde unter Beteiligung des Adam-Mickiewicz-Instituts erstellt, das die polnische Kultur im Ausland fördert und verbreitet.
Historisch total verworren
Der litauische Prinz Primislao kommt mit seiner Tochter Cunegonda am Hof des polnischen Königs Gismondo (auf Polnisch: Zygmunt) in Warschau an. Um den Thron Litauens zu besteigen, muss er zuerst Gismondo den Lehnseid leisten. Cunegonda soll den königlichen Sohn Ottone heiraten, was die Bindung zwischen den beiden Ländern noch mehr stärken soll. Der König Gismondo hat auch eine Tochter Giuditta, für ihre Hand bewerben sich zwei Herzöge: Ernesto von Livonia und Ermano von Mähren. Giuditta liebt jedoch Primislao, den sie bei einem Maskenball in Warschau kennengelernt hat. Er ist verwitwet und noch in der Blüte seines Lebens.
Primislao befürchtet, dass die Huldigung an den polnischen König sein Ansehen gegenüber den litauischen Soldaten schwächen wird. Also schlägt Gismondo ihm vor, dass die Zeremonie ohne Zeugen im königlichen Zelt stattfinden wird. Aber Ermano, Primislaos erbitterter Feind, lässt das Zelt zusammenfallen. Dann sieht jeder den litauischen Prinzen vor dem polnischen König knien. Gedemütigt und wütend erklärt Primislao Gismondo den Krieg, ohne dessen Entschuldigungen und Zusicherungen zu beachten, dass er den Urheber dieser bösen Tat finden und bestrafen wird. Auch Cunegonda bricht ihre Verlobung mit Ottone ab und Giuditta ist wegen dieser Wendung ebenfalls unglücklich. Es findet eine mächtige Schlacht statt, in der die polnische Armee siegt.
Ermano findet den verwundeten Primislao auf dem Schlachtfeld und will ihn erledigen, um den Tod seines Bruders zu rächen, der angeblich von dem litauischen Prinzen umgebracht wurde. Dann erscheint Giuditta und rettet ihren Geliebten. Es stellt sich heraus, dass Premislao des Todes von Ermanos Bruder nicht schuldig ist. Der Herzog von Mähren erkennt, zu welchem Unheil er geführt hat und beschließt, den einzigen ehrenwerten Ausgang zu nehmen: Selbstmord. Zuvor schrieb er einen Brief an König Gismondo, in dem er seine Rolle in der ganzen Angelegenheit erläuterte. Gismondo versöhnt sich mit Primislao, dem ab jetzt der Thron Litauens gehört. In Gismondos Tochter, die ihm das Leben gerettet hat, erkennt der litauische Fürst die schöne Fremde vom Maskenball. Ernesto, der ihre gegenseitige Liebe sieht, verzichtet edel auf Giuditta, damit Primislao sie heiraten könnte. Es besteht auch eine Vereinbarung zwischen Cunegonda und Ottone.
Es ist schwierig, einen Zusammenhang zwischen Gismondo und einem wirklichen polnischen König zu finden. In der Geschichte Polens gab es drei Herrscher mit dem Namen Zygmunt, die alle in der Renaissance regierten. Die zwei ersten – Zygmunt I. der Alte und Zygmunt II. August – herrschten in Krakau und der dritte – Zygmunt III. Waza – verlegte die Hauptstadt Polens nach Warschau, wo die Handlung von „Gismondo, re di Polonia“ spielt. Unter dem Namen Primislao (der eigentlich slawisch, nicht litauisch ist) versteckt sich Fürst Friedrich IV. von Holstein-Gottorf, der Gegner von König Friedrich IV. von Oldenburg.
Doktor Boris Kehrmann, der die Dramaturgie der Bayreuther Produktion überarbeitete, erklärt in seinem Vorwort, dass das Libretto kein Lehrbuch zur Geschichte ist und ein Dichter das Recht hat, Fakten frei zu jonglieren und anhand ihrer seine eigene Geschichte zu erzählen. Doktor Kehrmann verweist hier auf die Ansichten von Francesco Brianni selbst. Aber meiner Meinung nach wäre es besser, wenn sich die wahren Tatsachen im Hintergrund der fiktiven Story befunden hätten. Von italienischen Barockkünstlern ist dies jedoch kaum zu erwarten. Für Italiener des 16. Jahrhunderts befand sich Polen irgendwo am Nordpol; Wir wissen es aus den Berichten von unseren Landsleuten, die zu dieser Zeit in Italien studierten, wie zum Beispiel der Dichter Jan Kochanowski. Aber das „Gismondo“-Libretto wurde gegen 1700 geschrieben, deshalb hätte sein Autor über die Lage Polens besser informiert sein sollen.
Es stellt sich eine wichtige Frage: Was macht der polnische oder genauer gesagt polnisch-litauische „Faden“ hier? Während der Regierungszeit von Sigismund II. Augustus war Polen mit Litauen verbunden und beide existierten ab 1596 offiziell als polnisch-litauischer Doppelstaat unter einem gemeinsamen Herrscher. Dies waren die wirklichen Entscheidungen des Lublin-Vertrags. Die Existenz eines separaten Herrschers des Großherzogtums Litauen bezieht sich eher auf die Regierungszeit von König Władysław Jagiełło im 15. Jahrhundert. Aber selbst dann geschah zwischen beiden Ländern kein Krieg, von dem das Libretto von „Gismondo“ erzählt.
Doktor Kehrmann beruft sich noch auf eine weitere, spätere Analogie, nämlich den Kampf von August II. dem Starken mit Stanisław Leszczyński um die polnische Krone zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Zu diesem Konzept passt hingegen die litauische Spur nicht. Das einzig Richtige ist in diesem Libretto die Anwesenheit der Sarmaten1, für die der damalige polnische Adel sich selbst hielt. Die beiden Antagonisten sind recht schematisch dargestellt. Gismondo ist mutig, gerecht, ruhig, großzügig, verzeihend. Die Eigenschaften seines Gegners Primislao sind: Stolz, Leidenschaft, Ungestüm und Rachsucht, obwohl er in der letzten Szene seinen Edelmut zeigt.
Ein Sopran contra vier Contratenöre
Die musikalische Seite des Werks gleicht jedoch historische Ungenauigkeiten vollständig aus. Darüber hinaus gibt es hier eine erstklassige Leistung von hochkarätigen Künstlern. Das Dramma per Musica „Gismondo, re di Polonia“ passte perfekt in das barocke Innere des Markgräflichen Opernhauses in Bayreuth. Große Anerkennung gebührt dem polnischen Orchester „Oh! Orkiestra Historyczna” unter der Leitung von Martyna Pastuszka. Die künstlerische Leiterin des Ensembles ist sowohl die Dirigentin als auch die Konzertmeisterin und führte die ganze Vorstellung von der Geige aus. Es ist nicht nur ihr helles Kleid, das sie vom Orchester abhebt; Pastuszka behält die Musiker im Griff und achtet gleichzeitig auf Präzision sowie auf die Aufführungsfreiheit, mit Hingabe und Anmut. Sie bewegt sich sehr gut innerhalb der Terrassendynamik. Sie wird dabei von Maestro Marcin Świątkiewicz unterstützt, der virtuos Cembalo spielt. Das Fagott-Solo in der Sinfonia klingt besonders schön.
Die Besetzung der Solisten ist international, mit einer hervorragenden polnischen Vertreterin. Aleksandra Kubas-Kruk singt Premislao. Es ist eigentlich eine Contratenor-Partie, aber in dieser Produktion wird sie von einem dramatischen Sopranistin gesungen. Es gibt nichts Seltsames daran, in heutigen Inszenierungen von Barockopern werden männliche Rollen oft von Frauen gespielt. Aleksandra Kubas-Kruk hat die schwierige Rolle des Antagonisten der Hauptfigur hervorragend gemeistert. Sie verfügt über eine starke, temperamentvolle Stimme, mit der sie kämpferisch singt, besonders die Arie „Vendetta o ciel”. Ihre Endimprovisationen auf den hohen Tönen lassen das Publikum erschaudern. Kubas-Kruk ist auch eine hervorragende Schauspielerin. Es ist eine konzertante Aufführung, aber sie versucht, sich als die gespielte Figur auszugeben. Die Sängerin zeigt die Impulsivität Primislaos, indem sie beispielsweise gewaltsam Noten aus dem Pult reißt. In der Szene, als Giuditta den verwundeten Primislao findet, betritt die Sopranistin, die ihn spielt, langsam und mit sichtbaren Schwierigkeiten die Bühne, als ob sie wirklich gelitten hätte.
Die zwei anderen Damen verdienen ebenfalls Anerkennung. Cunegonda (Sophie Junker) ist dramatischer, Giuditta (Hasnaa Bennani) lyrischer. Junker widerspiegelt die inneren Dilemmata ihrer Heldin perfekt, als sie die Arie „Son figlia” aufführt.
Die Partien von Gismondo, Ottone, Ernesto und Ermanno singen vier Kontratenöre. Da sie sich jedoch in der Klangfarbe unterscheiden, hat der Hörer nicht den Eindruck, dass die vier Charaktere von einer Person gesungen werden. Ernesto (Jake Arditti) ist der lyrischste von allen. In seiner Arie „Tutto sdegno” gibt es Stellen, die der Textur von Pergolesis „Stabat Mater“ ähneln.
Ottone (Yuriy Mynenko) nimmt die Koloraturen sehr gut auf, besonders „Vado ai rai“. Nach einigen improvisierten Passagen macht er eine beeindruckende Pause. Manchmal nimmt er hohe Töne zu heftig auf, hat aber sehr schöne Pianos, zum Beispiel bei „Assalirò quel core”. Nicolas Tamagna (Ermano) zeigt auch die dunkle Seite des Charakters seines Helden.
Der Darsteller der Titelrolle von König Gismondo (Max Emanuel Cencic) verdient ein eigenes Kapitel. Ich bin voller Bewunderung nicht nur für seine vokalen Fähigkeiten, sondern auch, weil er der Intendant und künstlerischer Leiter des „Festivals Bayreuth Baroque“ ist. Es ist sicherlich für ihn eine Herausforderung, diese beiden Funktionen – das Management und Künstlerische Leistung – in Einklang zu bringen. Beides ergänzt sich eigentlich sehr gut: Außerdem wer, wenn nicht er, kann andere Sänger verstehen? In der Arie „Bella pace” präsentiert er ein schönes, rundes Vibrato in den tiefen Tönen und improvisiert großartig. Nach den von ihm gesungenen Arien „Bella pace” und „Se soffia rato” ruft jemand aus dem Publikum „Bravo” und es gibt lauten Applaus. Er brachte auch den dramatischen Charakter der Kriegsarie „Torna Cinto” perfekt zur Geltung.
Obwohl das Markgräfliche Opernhaus mit dem Festspielhaus nicht viel zu tun hat, hat „Gismondo“ eine Ähnlichkeit mit Wagner. Wie in der Oper „Tristan und Isolde“ ist der gesamte zweite Akt mit dem Duett von Cunegonda und Ottone gefüllt. Beide kämpfen heftig zwischen der Liebe zueinander und dem Pflichtgefühl gegenüber ihren zerstrittenen Vätern. Die Sänger führen es ausgezeichnet auf und im Gegensatz zu Wagner endet die Sache glücklich.
Das Live-Streaming dieses Dramma per Musica ist auf der Website des Bayerischen Rundfunks verfügbar. Die Sendung dauert drei Stunden, man sollte also etwas Zeit einplanen, um sie anzusehen. Darüber hinaus veröffentlichte Parnassus Art Productions ein wertvolles Album mit der Aufnahme der Vorstellung, das aus drei CDs besteht. Dort singt Dilyara Idrisova die Partie von Giuditta. Die dazu beigelegte Broschüre enthält den Text, in dem Dr. Boris Kehrmann die Umstände der Oper erläutert. Die polnische Übersetzung davon ist holprig, wenn es um das Musikvokabular geht. In der Beschreibung des Werks befindet sich ein großer Fehler. Der Satz lautet im Original: „Vincis Partitur besteht aus der Sinfonia, 28 Arien, je einem Duett und Schlusschor“. In der Barockmusik heißt „Sinfonia“ einfach Vorspiel. Zygmunt Pomianowski übersetzte den Begriff ins Polnische als „symfonia“ (Symphonie), was ein Orchesterstück mit vier Sätzen aus den späteren Epochen – klassischen und romantischen – bedeutet.
Vielleicht ist das Geschmacksache, aber inhaltlich gefällt mir Ferdinand Pfohls Rhapsodie „Twardowski“ für Orchester, Männerchor und Mezzosopran viel besser. Obwohl dieses Werk ein fantastisches Motiv aufgreift – der Nekromant Meister Twardowski ruft den Geist der geliebten Frau von König Sigismund II. August hervor – ist dieses Thema tief in der polnischen Kultur verwurzelt. Bei „Gismondo“ gibt es so vielfältige Hinweise auf die Geschichte, dass sich der Zuschauer oder Hörer in all dem verlieren kann. Deshalb schlage ich vor, dieses Dramma per Musica als ein schönes musikalisches Märchen mit einer Moral zu behandeln, weil sogar die Titelfigur so idealisiert ist, dass es schwer fällt, einen Prototyp für ihn zu finden; selbst unter den Königen Polens.
Jolanta Lada-Zielke, 7. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
1 Als Sarmatismus bezeichnet man im Allgemeinen die Kultur des polnischen Adels im 17. und 18. Jahrhunderts. Ausgangspunkt ist die Selbstbezeichnung der Szlachta (Adel) und der Magnaten, die ihre Herkunft genealogisch, auf das Volk der Sarmaten zurückführten (Wikipedia).
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