Sommereggers Klassikwelt 190: James Levine, dem abservierten Pultstar zum 80er

Sommereggers Klassikwelt 190: James Levine, dem abservierten Pultstar zum 80er  klassik-begeistert.de, 21. Juni 2023

James Levine – conductor. Falstaff. Metropolitan Opera House. Dec. 20, 2013

Kaum ein Dirigent des 20.Jahrhunderts war für die ehrwürdige Metropolitan Opera in New York derart prägend, wie der vor zwei Jahren verstorbene James Levine. Über 45 Jahre fungierte er als Chefdirigent des Hauses, die von ihm geleiteten über 2000 Aufführungen von 75 verschiedenen Werken sind Ausdruck der künstlerischen Vielfalt, die Levine in sein Amt einbrachte.

 

von Peter Sommeregger

Zur Zeit seines Amtsantrittes war James Levine noch keine dreißig Jahre alt, hatte sich aber bereits als Assistent von George Szell beim Cleveland Symphony Orchestra und als Pianist und Klavierbegleiter einen Namen gemacht. Neben seiner Tätigkeit an der Met gastierte Levine regelmäßig bei so gut wie sämtlichen Symphonieorchestern der Welt. Mit den Wiener Philharmonikern verband ihn eine langjährige Zusammenarbeit bei den Salzburger Festspielen, bei denen er zwischen 1975 und 1993 sowohl als Opern- als auch als Konzertdirigent erfolgreich war.

Zwischen 1982 und 1998 dirigierte James Levine bei den Bayreuther Festspielen, wo er eine neue Produktion vom „Ring des Nibelungen“ leitete, den er Anfang der 1990er Jahre nach fünfzig Jahren Unterbrechung auch wieder an der Met aufführte. Zwischen 1999 und 2004 amtierte Levine als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, ein Amt, das er nach Sergiu Celibidaches Tod übernahm. 2004 wechselte er zum Boston Symphony Orchestra, mit dem er große Erfolge feierte. 2011 musste er das Amt aber aus gesundheitlichen Gründen abgeben, bereits seit 2006 plagten ihn schwere Rückenbeschwerden, wohl als Folge seiner intensiven Dirigiertätigkeit.

Kommissarisch gab er die Leitung der Metropolitan Opera 2011 an Fabio Luisi ab, übernahm aber 2013 das Amt wieder, obwohl er bereits an den Rollstuhl gefesselt war. Im Herbst 2016 wurden erstmals Anschuldigungen sexueller Belästigung und Missbrauchs gegen Levine laut. Die Metropolitan Opera setzte daraufhin die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten aus. Was folgte, war ein mehrjähriger Rechtsstreit zwischen dem Opernhaus und dem Dirigenten, der die erhobenen Vorwürfe konsequent zurückgewiesen hatte. Im Jahr 2019 wurde eine außergerichtliche Einigung erzielt, über deren Details Stillschweigen vereinbart wurde. Dem Vernehmen nach erhielt Levine eine Abfindung in Höhe von 3,5 Millionen Dollar. Als schwer kranker, gezeichneter Mann zog sich Levine aus der Öffentlichkeit zurück.

Am 9. März 2021 starb der Künstler in seinem Heim in Palm Springs. So schwerwiegend die Vorwürfe gegen ihn auch waren, der Umgang damit stieß trotzdem auch auf Kritik. Levines Neigung zu jungen, sehr jungen Männern war stets ein offenes, und offenbar toleriertes Geheimnis gewesen. Im Zuge einer vehementen MeToo-Debatte und der um sich greifenden Cancel-Culture meinte man, damit anders umgehen zu müssen.  Kein Künstler hat das Haus so nachhaltig geprägt, die Vielfalt der dort gespielten Werke war das Verdienst von Levines Vielseitigkeit.

Sein akustisches Erbe auf Bild-und Tonträgern ist entsprechend umfangreich, unzählige Met-Produktionen sind auf DVD erschienen, so z.B. der komplette „Ring des Nibelungen“. Aber auch als Liedbegleiter am Flügel erwies er sich als sensibler Musiker. Künstler seiner komplexen Begabung sind selten, zumindest sein Andenken sollte man in Ehren halten und seinen 80. Geburtstag nicht einfach ignorieren.

Peter Sommeregger, 21. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.

Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.

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4 Gedanken zu „Sommereggers Klassikwelt 190: James Levine, dem abservierten Pultstar zum 80er
klassik-begeistert.de, 21. Juni 2023“

  1. Ich habe James Levine als den Dirigenten mit dem musikalisch schönsten Ring in Erinnerung, den ich je hörte: der Kirchner-Ring in Bayreuth in den 1990ern; Bühnenbild von Rosalie (die schönen grünen Schirme im Waldweben). Seine letzten Jahre sind leider tragisch verlaufen…

    J. Capriolo

    1. Guten Morgen!
      Diesen Ring kenne ich ebenso und hatte immer die leise Hoffnung, dass er einmal auf CD kommt. Ich war von seinem Dirigat ebenfalls tief beeindruckt, er hatte das für mich „richtige “ Tempo über die Jahre gefunden und hatte tolle Sänger (z.B. Tomlinson als Wotan). Damals konnte ich noch nicht nach Bayreuth fahren und habe einen Mitschnitt auf Musikcassette gemacht, als hier im WDR bei den „Internationalen Musikfestspielen“ eine Aufzeichnung gesendet wurde und ich dabei sein durfte. Irgendwie traue ich mich bis heute nicht, diese Cassetten wegzuwerfen.

      Jürgen Schemetat

  2. ich möchte meine musikalischen live eindrücke mit james levine nicht einen moment lang missen, vor allem wenn man bedenkt welcher kasperl jetzt das podium der MET übernommen hat und den standard nicht halten kann.

    Fred Keller

  3. Dass er ein großartiger Dirigent war, streitet niemand ab. Doch ist eine Aussage, die Machtmissbrauch – der zudem noch bekannt und damit nicht mal anzuzweifeln war! – relativiert und auf dringend notwendige Tabubrüche schiebt, total daneben. Eine „um sich greifende Cancel-Culture“ gibt es nicht (im Gegensatz zu dem tatsächlichen Missbrauch…) und „meinte man, damit anders umgehen zu müssen“ ist dermaßen unsachlich, dass es mir die Schuhe auszieht.
    In was für einer unmenschlichen Welt leben wir, in der künstlerisches Genie Missbrauch von Macht und anderer Menschen rechtfertigt?!

    Daisy Daumer

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