Wolfgang Rihms Musik spricht, sie ist beseelt und trotz ihrer Todesthematik voller Liebe zum Detail

Wolfgang Rihm, Gruß-Moment 2 – in memoriam Pierre Boulez
Wolfgang Rihm, „Requiem-Strophen“ für Soli, gemischten Chor und Orchester (2016) – Uraufführung
Mariss Jansons, Dirigent
Anna Prohaska, Sopran, Mojca Erdmann, Sopran
Hanno Müller-Brachmann, Bariton
Chor des Bayerischen Rundfunks
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
München, Herkulessaal, 30. März 2017

Von Maria Steinhilber

Der Herkulessaal in München ist zu 90 Prozent gefüllt – die Zuhörer erwarten gespannt den Beginn des ersten Orchesterwerkes von Wolfgang Rihm und begrüßen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit einem kräftigen Applaus. Noch größer ist die Begeisterung, als der Dirigent Mariss Jansons die Bühne betritt.

Das fürs Orchester komponierte Gruß-Moment 2 – in memoriam Pierre Boulez ist nur etwa zehn Minuten lang. Die Instrumentierung ist zart: Oboe, Englischhorn, Kontrafagott, Posaune, Pauke und eine Harfe – einzeln besetzt sowie weitgehend solistisch geführt sowie vier Hörner in F, vier Flöten sowie ein Korpus an Streichern.

Die Solo-Oboe beginnt mit einem tänzelnden Motiv, zu dem sich langsam immer mehr Instrumente gesellen. Dank der Streicher läuft der Zuhörer gedanklich durch ein Dickicht verschiedener Pfade, die eingeschlagen werden können. Doch wohin läuft man genau? Die Streicher verdunkeln das Bild. Jetzt kann man sich schon eher ein Memoriam vorstellen. Doch die Musik bleibt labyrinthisch. Die Instrumente erklingen teilweise fast solistisch, Drama ist angesagt, das aber nie lange anhält, sondern sich dezent wieder verzieht.

Das Ende klingt dann schon fast melodiös, und es scheint, als wäre der letzte gesuchte Pfad nun gefunden. Die Pauke beendet das Stück und sagt damit so etwas wie: „Es ist vollbracht“ – RIP Pierre Boulez! Der Applaus ist noch etwas verhalten.

Requiem-Strophen betitelte Rihm sein 2016 entstandenes Werk für Soli, gemischten Chor und Orchester. An diesem Abend ist die Uraufführung, die Spannung ist groß. Mojca Erdmann singt Sopran 1 und schreitet wie eine Engelsgestalt in langem weißen Kleid neben Anna Prohaska, Sopran 2 in schwarz, auf die Bühne. Hanno Müller-Brachmann singt den Bariton.

Es erklingt ein Duett der beiden Soprane, wodurch die vertonten Texte eine noch größere dramatische Dringlichkeit erhalten. Solistische Darbietungen der Sängerinnen sind im gesamten Stück nicht vorhanden. Auf Latein beginnen sie und katapultieren sich in die höchsten Lagen. Tiefere Töne wirken gleich noch tiefer, da die Sängerinnen in der Höhe an Grenztöne geraten. Sie bewältigen dies aber durchaus gut und verschmelzen bei einem zarten Piano fast zu einem Ganzen.

Dumpfe Klänge aus dem Orchester, der Chor des Bayerischen Rundfunks erhebt sich. Er wirkt gigantisch groß und schon beim Anblick unglaublich mächtig – und der Anblick trügt nicht!

Tuba und Posaune leiten den Requiem-Satz ein, sie erinnern an Giuseppe Verdi und „Orpheus in der Unterwelt“ von Jacques Offenbach. Doch Rihm verändert den Gestus. „Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachendes Mundes. Wenn wir mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns“ – der Komponist hat Rainer Maria Rilkes Gedicht „Schlussstück“ vertont. Der Chor artikuliert den depressiven Text wunderbar und vollkommen textverständlich.

Die atonale Harmonik ist nicht leicht singbar, der Chor hat eine sehr schwere Aufgabe zu bewältigen. Nur selten vernimmt der Hörer tonale Klänge. Die Musik schwebt in einem diffusen Raum, hat aber dennoch etwas sehr Meditatives und Bewegendes: durch die Texte aus der Unterwelt, die durchaus zum Nachdenken anregen, und durch die Klänge, die miteinander verschmelzen und mich aus dem Konzertsaal wegtreten lassen. Immer wieder erscheinen traditionelle Formen, wie etwa ein kontrapunktischer Satz, doch diese hat Rihm raffiniert verändert und wollen auch etwas anderes ausdrücken.

Der Komponist Wolfgang Rihm betont immer wieder seinen Wunsch „Ich zu sein“. Das gelingt ihm am heutigen Abend. In den Requiem-Strophen verweist er bei der Frage nach Gott auf den Menschen – eine gelungene Verbindung geistlicher und weltlicher Topoi. Außerdem gelingt es dem Komponisten, die Texte in Verbindung mit anderen Texten zum Klingen zu bringen, besser gesagt: zum Sprechen. Seine Musik spricht, sie wirkt beseelt und ist trotz der Todesthematik voller Liebe zum Detail. Rihm hat in den vergangen Monaten einiges erlitten. Ein langer Krankenhausaufenthalt verhinderte seine Teilnahme an der Uraufführung.

Dumpf und grollend geht es weiter. Es singen die zwei Sopranistinnen, wobei leider nun der Sopran 1 dominiert und beim Duett deutlich wahrnehmbarer ist als der Sopran 2. Rihms bekannten Ausspruch „Ich liebe es, wenn es singt“ verkörpern diese Sängerinnen leider nicht. Auch wenn die Musik selten harmonische Momente zulässt, sollte Harmonie zwischen den Sängern herrschen. Ebenso agieren die Solisten und das Orchester nicht vollkommen harmonisch zusammen. Der Chor hingegen ist stabil.

Ein Highlight des Abends ist der Bariton Hanno Müller-Brachmann, der mit drei Sonetten von Michelangelo Buonarroti den Tod besingt. Die Dringlichkeit in seiner Stimme passt hervorragend zur Thematik, er artikuliert sehr gut, und der Hörer selbst glaubt, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Beim dritten und letzten Sonett läuft der Bariton zu Hochtouren auf und begeistert das Publikum. Dank Müller-Brachmann ist den depressiven Texten etwas abzugewinnen.

Der Chefdirigent des Bayerischen Symphonieorchesters Mariss Jansons leitet die Musiker aus sanften Bewegungen heraus, auch bei den dramatischsten Momenten. Der Lette hat alles im Griff: Chor, Orchester und Solisten.

Das Lacrimosa, das als das Vorzeigestück gilt, beantwortet die Frage, wie sich der schuldige Mensch in den letzten Momenten seines Lebens zu verhalten hat. Beim Agnus Dei sind dann fast schon barocke Figuren wie chromatisch absteigende Linien zu vernehmen. Das Leiden ist als fester Topos verankert. Im vierstimmigen Chorsatz sieht es ähnlich aus.

Mit den Strophen von Hans Sahl endet nicht nur das Werk Rihms und gibt ihm auch den Namen: „Ich gehe langsam aus der Welt heraus in eine Landschaft jenseits der Ferne, und was ich war und bin und was ich bleibe, geht mit mir ohne Ungeduld und Eile in ein bisher noch nicht betretenes Land“, singt der Chor sehr ausdrucksstark und zeigt, dass sich auch die atonalsten Klänge bewältigen lassen. Er beendet damit das Konzert und verdient sich am meisten Applaus. Die beiden Soprane trafen leider nicht die gewünschte Balance. Der Bariton strahlte. Jansons dirigiert erleichtert ab und das Orchester wirkt mit der eigenen Leistung zufrieden. Eine gelungene Uraufführung.

Die Musik Wolfgang Rihms bewegt und regt zum Nachdenken über das eigene Leben an. Trotz der vielen dumpfen und melancholischen Klänge klingen einzelne kurze Floskeln wie ein Ohrwurm im Kopf nach. Da Rihm seine subjektive Gefühlslage in den Kompositionen ausdrückt, wünschen wir ihm in Anbetracht der finsteren Musik eine schnelle Genesung um den Kontinent-Rihm auch weiterhin erforschen zu können. Dann vielleicht aber eine etwas fröhlichere Ecke.

Maria Steinhilber, 31. März 2017
für klassik-begeistert.de

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