10 Fragen an den Chordirektor und Kapellmeister Tarmo Vaask: "Für mein Herz und für den Kopf tut es gleichermaßen gut, Bach zu spielen"

10 Fragen an den Chordirektor und Kapellmeister Tarmo Vaask  klassik-begeistert.de

Als Chordirektor und Kapellmeister war der in Estland geborene Tarmo Vaask an der Nationaloper Tallinn, beim Theater und der Philharmonie Thüringen, am Theater Heidelberg, am Theater Bremen und am Theater Bern tätig.  In Bremen wurde er darüber hinaus als Spezialist für zeitgenössische Opernwerke geschätzt und übernahm die musikalische Leitung mehrerer Uraufführungen wie Ludger Vollmers Oper „Gegen die Wand“, nach Fatih Akims gleichnamigem Drehbuch. Seit September 2011 ist Timo Vaask als Chordirektor mit Dirigierverpflichtung am Staatstheater Nürnberg engagiert. Neben den Choreinstudierungen steht er hier auch als Abenddirigent am Pult, zuletzt bei den Opern „Anna Nicole“ von Turnage und „Hänsel und Gretel“, demnächst bei der „West Side Story“. Darüber hinaus war Tarmo Vaask musikalischer Leiter der Gemeinschafts-Produktion „Monade“ zwischen Opernchor und Nürnberger Ballettcompagnie.

Mit dem LGV-Konzertchor – dessen künstlerischer Leiter Tarmo Vaask seit 2015 ist – und den Nürnberger Symphonikern hat er zuletzt auch das Requiem von Andrew Lloyd Webber sowie die 5. Sinfonie von Tschaikowski dirigiert. Weitere Engagements führten ihn zum MDR Rundfunkchor, SWR Vokalensemble Stuttgart, Choeur de Radio France und zum Estnischen Philharmonischen Kammerchor. Tarmo Vaask ist auch künstlerischer Leiter des Symphonischen Chores Bamberg. Als letztes Konzert vor Corona hat dieser Chor gemeinsam mit den Bamberger Symphoniker am 7. und am 8. März 2020 Verdis Requiem in der Konzerthalle Bamberg aufgeführt. Jetzt verbringt der Yoga-Anhänger Tarmo Vaask seine Zeit daheim in Nürnberg mit seiner Familie.

Interview: Dr. Petra Spelzhaus
Foto: Vor dem Brandenburger Tor mit den beiden Töchtern Marlene und Ariane.

klassik-begeistert.de: Was haben Sie vor einem Jahr getan, und wie sieht Ihr Alltag heute aus?

Tarmo Vaask: Am 10. April 2019 fanden zwei Proben mit „Don Carlos“ von Verdi in der Oper und drei Besprechungen mit der Theaterleitung statt. Am Karfreitag habe ich das Mozart-Requiem in der St. Lukas-Kirche in Nürnberg dirigiert, das der Konzertchor LGV gemeinsam mit den Mitgliedern der Staatsphilharmonie Nürnberg zur Aufführung brachte. Dieses Jahr war ein großer Beethoven-Zyklus geplant. Am Karfreitag wollten wir mit dem LGV-Konzertchor eigentlich „Christus am Ölberge“ des jungen Beethoven, der  hier noch im Geiste seines Lehrers Joseph Haydn komponierte, aufführen. Im Herbst ist die „Missa solemnis“ und Silvester „Fidelio“ konzertant in der Meistersingerhalle Nürnberg geplant.

Nennen Sie bitte 3 Schlagworte, wenn Sie das Wort Corona hören…

– Freelancer-Kompensation: Viele Gäste in Bamberg und am Nürnberger Opernhaus verdienen freiberuflich ihr Geld.

– Eltern: speziell meine Eltern in Estland, die keinen Besuch empfangen dürfen, die zum Glück aber beide noch körperlich fit sind und fernab der verseuchten Zivilisation wohnen.

– Spiel aus meiner Jugend: Corona ist ein Brettspiel ähnlich wie Billard mit Klötzen.

Welches sind die einschneidendsten Veränderungen seit Ausbruch der Corona-Pandemie? Können Sie ihr auch etwas Positives abgewinnen?

Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ist ebenso einschneidend wie die Angst, dass die Kulturinstitutionen noch lange geschlossen bleiben und dass sich das Publikum nur zögerlich in Massenveranstaltungen zurücktraut. Schließlich fällt ein Großteil der Zuschauer in die Corona-Risikogruppe.

Positiv profitiert klar die Familie. Da ich sonst praktisch jeden Abend unterwegs war, musste ich mich erst wieder daran gewöhnen mit meiner Familie einen Spiele- oder Filmabend zu erleben. Gestern Abend haben wir einen genialen Film von Oliver Haffner über das Theaterleben gesehen: „Ein Geschenk der Götter“. Dazu musiziere ich wieder zusammen mit meiner Frau, und ich habe meine „Jugendliebe“ – die Trompete – wiederentdeckt. Genauer habe ich mir hier ein Flügelhorn zugelegt, da meine Yamaha-Trompete noch bei den Eltern in Estland vor sich hindöst.

Womit verdienen Sie sich normalerweise Ihre Brötchen? Wie ist die Situation nach Aussetzen sämtlicher kultureller Veranstaltungen? Wie könnte ein Rettungsschirm für die freischaffenden Künstler aussehen?

Ich bin in der glücklichen Lage am Staatstheater Nürnberg engagiert zu sein, wo wir bis jetzt noch unser Grundgehalt beziehen. Die ersten sonstigen Konzerte sind natürlich weggefallen. Gerade heute hätte ich mit LGV Nürnberg und den Nürnberger Symphonikern Beethovens Oratorium „Christus am Ölberge“ dirigiert. Mit dem Verdi-Requiem, das mein Symphonischer Chor am 7. und 8. März mit den Bamberger Symphonikern aufgeführt hat, war aber Schluss.

Das Leben eines Freelancers kenne ich aber allzu gut und hoffe und wünsche mir sehr, sie werden diese Zeiten überstehen. Die Freunde des Staatstheaters haben in Nürnberg einen Spendenaufruf zugunsten unserer freischaffenden Gäste organisiert, dem ich und der Opernchor gefolgt sind. Fair fände ich eine 50/50-Lösung für die Gäste, die wegen Corona ihre Verträge nicht ausfüllen können. Das hieße, dass die Freelancer 50 Prozent ihrer Gage bekämen und sich somit die Ausfälle hälftig mit dem Veranstalter teilen.

Mit dem Regisseur Peter Konwitschny bei der Probe zu Bernd Zimmermanns Oper „Soldaten“ am Staatstheater Nürnberg.

Wie gelingt es einem Dirigenten ohne Publikum bei Laune zu bleiben?

Da ich selbst von der Krankheit nicht betroffen bin, fühle ich mich wie ein Urlauber in der früheren Sowjetunion. Damals waren auch keine Auslandsaufenthalte erlaubt. Mit dem Opernchor Nürnberg haben wir gerade ein kleines Video für den digitalen Fundus auf der Seite des Staatstheaters Nürnberg gedreht. Es handelt sich um eine Anwesenheitsnotiz der Chorsänger und endet in einem „Va pensiero“  des Gefangenenchores aus Verdis „Nabucco“ in Stummfilmästhetik. Sich damit zu beschäftigen war schön. Zumal „Nabucco“ auch die erste Vorführung war, die durch den Shutdown ausgefallen ist. Gemeinsam mit dem Geschäftsführer des Symphonischen Chores Bamberg plane ich aktuell die Konzerte für die Zeit nach Corona, und es macht richtig Spaß an einem Konzertprogramm „zu basteln“.

Eine Frage, die mich als Ärztin sehr interessiert: Mit welchem Musikwerk stimulieren Sie Ihr Immunsystem?

Es kann jede Form von Musik sein, sofern sie gut gemacht ist, also auch Jazz-, Pop- und Volksmusik. Für mein Herz und für den Kopf tut es gleichermaßen gut, Bach zu spielen. Die Musik vor Bach (Gregorianik bis Barock) hat bestimmt therapeutische Wirkung, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Als kleine Anekdote folgende Geschichte: Ich hatte immer schon Probleme mit verengten Nasennebenhöhlen, also kann ich eigentlich nie richtig frei durch die Nase atmen. Als Jugendlicher – als ich noch ordentlich gesungen habe – haben sich oft während des Singens diese verengten Hohlräume geöffnet, und ich fühlte mich jedes Mal wie im siebten Himmel. Jetzt bekomme ich diese Glücksgefühle meist nur bei der Narkose beim Zahnarzt.

Vor dem Staatstheater Nürnberg.

Momentan verbringen viele Musikliebhaber viel Zeit in ihren eigenen vier Wänden. Gibt es ein Buch, eine CD oder auch Streamingangebot, das sie uns dringend empfehlen würden?

Eine Film- und Streamingempfehlung ist natürlich die oben angesprochene Anwesenheitsnotiz des Opernchores. Auf der Homepage des unter anderem von mir kürzlich gegründeten Symphonischen Chores Bamberg gibt es ein Imagevideo von unseren Proben bis zur Aufführung des Verdi-Requiems samt Eindrücken der jungen Sänger*innen – erfrischend! https://youtu.be/DsqLLyVJfSQ.

Gerade lese ich „Das Bastardbuch“ des Skandalregisseurs Hans Neuenfels und zum Einschlafen meiner 7-Jährigen Tochter „Die Kinder von Bullerbü“ – beides sehr zu empfehlen.

Kommen wir zur ersten Frage zurück: Wo sehen Sie sich in einem Jahr?

Wahrscheinlich bei einem Probenwochenende mit dem Symphonischen Chor für ein sehr spannendes Werk. In Nürnberg ist 2021 die „Symphonie der Tausend“ (8. Symphonie von Gustav Mahler)  mit drei großen Chören geplant, im Opernhaus läuft gerade die Vorstellung des „Freischütz“.

Foto: Ludwig Olah, Staatstheater Nürnberg.

Es gibt Zukunftsforscher, die nach überstandener Corona-Krise eine Verbesserung des Weltklimas – ökologisch wie sozial – prophezeien. Teilen Sie diese Einschätzung? Wie ist Ihre Vision?

Ich würde mir wünschen, dass eine langfristige Verbesserung des Klimas eintritt, dass Politik und Wirtschaft nicht nur gewinnorientiert alles aus dieser Erde herausquetschen. Ich weiß aber nicht, ob die Welt noch zu retten ist mit unseren Gewohnheiten. Die Hoffnung stirbt aber bekanntlich zuletzt. Das Virus bietet uns den Moment, nachzudenken. Zeit haben wir ja nun dafür.

Schauen wir in die Glaskugel: Die Heilige Corona, auch Schutzpatronin gegen Seuchen, hat ein Einsehen mit uns und beendet die Pandemie. Alle Musikclubs, Theater und Opernhäuser öffnen wieder. Für ihren ersten Auftritt haben sie drei Wünsche frei: Wo, in welcher Produktion und mit wem teilen sie die Bühne?

Klar die Premiere von Rubinsteins Oper „Dämon“ im Staatstheater Nürnberg, die eigentlich für den 4. April dieses Jahres geplant war. Und die geplante „Carmina Burana“ mit dem Symphonischen Chor Bamberg und den Bamberger Symphonikern: Am 10. Juli. beim Kissinger Sommer und am 11. Juli Open Air in Luipoldhein, Nürnberg. Beide Werke sind thematisch sehr passend für die Zeit nach der Seuche.

Interview: Dr. Petra Spelzhaus, 14. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dr. Petra Spelzhaus, München

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