Bayerische Staatsoper, 17. Juli 2019
Anna Netrebko (Sopran) und Malcom Martineau (Klavier),
Liederabend „Tag und Nacht“
Die Stimme dieser Frau entspannt. Ihre satte, frauliche Tiefe und ihre strahlende Höhe sind vom Piano bis zum Forte gleichermaßen stark; ihr Timbre ist mittlerweile so abgedunkelt, dass es (fast) wie ein Mezzo klingt, ihre strahlenden Spitzentöne sind ungebrochen, ihre Phrasierungen sind traumhaft schön. Es gleicht einer Explosion, wenn sie ihre Energie zum Glühen bringt.
von Andreas Schmidt
Darf ein Kritiker schwärmen? Darf er begeistert sein? Darf er seine Bewunderung preisgeben?
Nach meiner „Kritik“ über Anna Netrebkos Liederabend in Baden-Baden erreichten mich zahlreiche Zuschriften. Die eine Hälfte war ebenso begeistert wie ich. Die andere Hälfte sagte, ich habe zu dick aufgetragen.
Ich bleibe dabei: Auch der Abend in der Bayerischen Staatsoper hat eindrucksvoll offenbart, dass Anna Netrebko die Frau ist, die mit der größten Energie, dem größten Stimmenreichtum und der größten Hingabe in der Lage ist, die Herzen und die Seelen der Menschen zu erreichen.
Der Abend in München war so magisch wie der Abend in Baden-Baden. Deshalb hier noch einmal meine Worte.
Es gibt im Leben eines Opern-, Stimmen- und Klassikliebhabers Momente, die magisch sind und die sich auf Ewigkeit in die Seele einbrennen. Es gibt aber wirklich nur ganz wenige Abende, die von einer so nachdrücklichen Intensivität, von einer Strahl- und Leuchtkraft sowie Zauberhaftigkeit sind wie dieser Mittwochabend in Baden Baden..
Zu verdanken ist dies der magischen, bezaubernden, einmaligen und nuancenreichen Stimme der weltweit herausragenden Sängerin im Bereich der Klassik: Anna Jurjewna Netrebko, 47, aus dem russischen Krasnodar – einer Sopranistin mit russischem und österreichischem Pass, einer Künstlerin mit festen Wohnsitzen in St. Petersburg, Wien und New York.
Die Präsenz, die Hingabe, die Perfektion, die Vielfältigkeit, mit der Anna Netrebko an diesem Abend in München sang, können mit Worten eigentlich nicht beschrieben werden. Wer in Bayern lebt, schöne Stimmen liebt und an diesem Sonntag nicht dabei war, hat etwas verpasst.
Anna Netrebko manifestierte mit dem wunderbaren, einfühlsamen, perfekt spielenden Schotten Malcolm Martineau am Piano, dass Liederabende etwas ganz Wunderbares, Einfühlsames, ja: Intim-Persönliches sein können. Sie bewies in einer weltweit einzigartigen Vollkommenheit, dass eine Sängerin mit absoluter Devotion Lieder in sechs Sprachen an einem Abend zu singen vermag: auf Russisch, Deutsch, Französisch, Tschechisch, Englisch und Italienisch.
Auch wenn ihr Gesangs-Deutsch noch nicht vollkommen „perfekt“ in der Artikulation ist, gehörten die vier Lieder Richard Strauss’ zu den göttlichsten aller göttlichen Lieder, die sie während dieser 120 Minuten (abzüglich 20 Minuten Pause) sang. Ja, gerade dass sie nicht vollkommen akzentfrei auf Deutsch sang, machte Ihre Darbietung umso faszinierender, umso farbenreicher, umso sinnlicher.
Ihr „Morgen“ war der berührendste Vortrag dieses Meister-Liedes, das der Autor je gehört hat. Das war Gänsehaut pur, das waren feinste, lyrische Nuancen in Reinkultur, das waren bernsteinfarbene Mittellage und strahlende Höhe. In ihren sinnlich-femininen Kleidern sah die sichtlich schlanker gewordene Anna Netrebko hinreißend schön und mindestens zehn Jahre jünger aus – das bezeugten auch die Pausengespräche. Ihr wunderschönes schwarzes Kleid im zweiten Durchgang war eine Offenbarung.
Das war Anna-Magic!
Liebe Anna, Sie sollten viiiiiiel öfter auf Deutsch singen – so wie im Mai 2016 die Elsa von Brabant in Richard Wagners „Lohengrin“ unter der Leitung von Christian Thielemann in der Semperoper in Dresden. Auch das waren magische Momente! Sie singen auf Deutsch so schön, mit so viel russischer Seele und Hingabe, und ich spüre, dass Ihr Deutsch immer besser wird, auch wenn Sie sprechen – Sie sind ja jedes Jahr ein paar Wochen in Deutschland und in Österreich: in Wien im 1. Bezirk in Ihrer schönen Dachgeschosswohnung , und wenn Sie singen, ist es eh wunderbar. Ihre zwei Auftritte in diesem Jahr bei den Bayreuther Festspielen als Elsa werden sicher zu den Meilensteinen der klassischen Darbietungsform im 21. Jahrhundert gehören.
An diesem Sonntagabend zeigte Anna Netrebko, dass sie eine gigantische Sängerin ist: Ob bei Sergej Rachmaninow, Nikolai Rimski-Korsakow und Piotr I. Tschaikowsky auf Russisch, bei Richard Strauss auf Deutsch, bei Claude Debussy, Gustave Charpentier, Gabriel Fauré und Jacques Offenbach auf Französisch, bei Antonín Dvořák auf Tschechisch, bei Ruggero Leoncavallo auf Italienisch sowie bei Frank Bridge und Douglas Moore auf Englisch …
… in allen Sprachen berührte Anna Netrebko das Herz und die Seele, von der ersten Sekunde bis zur letzten Sekunde.
Viele Zuhörer schlossen die Augen. Atmeten laut. Beteten. Lächelten entzückt. Waren beseelt. Spürten Frieden und Wärme im Herzen und in der Brust und im Bauch.
Спасибо, дорогая Анна, спасибо! Danke, liebe Anna, herzlichen Dank!
Es war wirklich der Gänsehautfaktor 10: Wenn Anna Netrebko mütterlich weiblich-weich in bernsteinfarbenen Tönen in der Mittellage sang, wenn sie Erda-gleich wie eine Mezzosopranistin ins tiefere Register glitt und wenn sie mit offener, betörender Frauen-„Power“-Stimme in den ganz großen Höhen eine STRAHL-KRAFT manifestierte, die unter den Sopranen dieser Welt einzigartig ist.
„Wie elegant, wie sensibel, wie ausdrucksstark, wie sie mit jeder Note spielt, diese als Ton in die Luft wirft, balanciert, moduliert, wie sie Pianissimi ins Auditorium zaubert, aber stets so, dass selbst der zarteste Hauch den ganzen Raum erfüllt – all das ist meisterhaft“, schrieb „Der Kurier“ über die außergewöhnliche Sangeskunst der Frau Netrebko trefflich.
Anna Netrebkos Gesang entspannt. Ihre satte, frauliche Tiefe und ihre strahlende Höhe sind vom Piano bis zum Forte gleichermaßen stark; ihr Timbre ist mittlerweile so abgedunkelt, dass es (fast) wie ein Mezzo klingt, ihre strahlenden Spitzentöne sind ungebrochen, ihre Phrasierungen sind traumhaft schön. Es gleicht einer Explosion, wenn sie ihre Energie zum Glühen bringt.
„Netrebko ist ja immer noch und immer wieder den Bohei wert, den man um sie macht“, schrieb Der Tagesspiegel. „Die Batterie, die diesen Sopran befeuert, erscheint in manchen Momenten eher wie ein Kernreaktor.“ Ihre Stimme werde stets getragen „von einer purpurnen, rotglühenden, vulkanischen Unterströmung“.
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung jubelte: „Diese Sängerin ist den erhöhten Eintrittspreis dreifach wert. Jeder Ansatz, jedes Crescendo, jede Geste, jedes Pianissimo, jeder Triller: Es passt.“
Es war auch an diesem Abend überwältigend, wie Anna Netrebko Spitzentöne ansteuerte und dann ein Diminuendo bis fast zur Lautlosigkeit ausformte – das war Stimmkunst in vollendeter Form. „Netrebkos Stimme ist makellos, zärtlich, die Koloraturen freizügig girrend, aufblühend“, schrieb die Berliner Morgenpost.
Wenn der Autor dieser Zeilen sich für eine Sanges-Sprache der Frau Netrebko entscheiden müsste, dann wäre es sicherlich Russisch, obwohl er nur Polnisch spricht und Rudimente der großen slawischen Schwestersprache: Wenn die Sopranistin in ihrer Muttersprache singt, ist sie wirklich vollkommen und ganz bei sich, sind Stimme, Seele, Herz und Hirn im vollkommenen Einklang.
Dann erreicht die Meisterin den größten Magie-Faktor.
Wenn Anna Netrebko auf Deutsch singt, ist dieser Magie-Faktor nur einen kleinen Deut geringer – und vor allem auch die französischen Lieder waren von herausragender Qualität.
Aber es war jedes der 25 Lieder (inklusive zwei Zugaben) an diesem Abend ein Meisterwerk.
Spacibo, liebe Anna, Spacibo!
Klassik begeistert!
Andreas Schmidt, 18. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at