„Rising Star“ in der Elbphilharmonie Hamburg: João Barradas beeindruckt mit virtuosem Akkordeon-Spiel

João Barradas, Rising Stars,  Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal, 22. Januar 2020

Insgesamt ein Abend, der das hohe technische Vermögen und die große Bandbreite von João Barradas zeigte. Es bleibt ein eher beeindruckter als begeisterter Eindruck. Die Reihe „Rising Stars“ ist uneingeschränkt zu loben, auch für ihre Bildungsarbeit.

Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal, 22. Januar 2020
Foto: João Barradas © Marcia Sofia Lessa

João Barradas
Rising Stars

João Barradas, Akkordeon
Ben van Gelder, Saxofon
Simon Moullier, Vibrafon
Luca Alemanno, Kontrabass
Naíma Acuña, Schlagzeug

von Guido Marquardt

Schöne Sache, wenn auch mal ein anderes Instrument als Violine oder Klavier im Mittelpunkt eines Konzertabends steht. Und sowohl das Akkordeon als auch dessen Interpret João Barradas konnten an diesem Abend zeigen, was in ihnen steckt und wie vielfältig die musikalischen Einsatzfelder sind. Am Ende kann Barradas mit Altmeister Bach am stärksten beeindrucken. 

Mehrere große europäische Konzerthäuser, darunter das Konserthuset Stockholm, das Councertgebouw Amsterdam und der Palau de la Música Catalana in Barcelona, haben sich zusammengeschlossen und präsentieren in einer Tournee sechs handverlesene Nachwuchskünstler unter der Überschrift „Rising Stars“. In der Elbphilharmonie gastieren sie durchweg im Kleinen Saal, komprimiert in einer Festivalwoche. Den Anfang hatte der Trompeter Simon Höfele gemacht, der auch von der Elbphilharmonie mit ausgewählt worden war.

Ein Akkordeonist mit großer Bandbreite

An diesem Mittwoch nun war der portugiesische Akkordeonist João Barradas an der Reihe, zunächst solo und nach der Pause gemeinsam mit vier Musikerkollegen. Bereits vielfach ausgezeichnet, bewegt sich Barradas im weiten Spektrum zwischen etablierter und zeitgenössischer Klassik sowie Jazz. Die im Programm gelisteten Stücke stecken diese Bandbreite bereits recht gut ab, und auch die persönliche „Top 5 Playlist“ von Barradas reicht von Rachmaninow über Keith Jarrett bis zu Ligeti.

Früh entwickelt, vom Umfeld inspiriert

Zum Tourneeprogramm gehört neben den Konzerten jeweils auch ein vorangestelltes Künstlergespräch. Die aufmerksame Interviewerin Dorothee Kalbhenn stellte zunächst mit einem kurzen Videoausschnitt die bemerkenswerten Fähigkeiten vor, die Barradas bereits als Elfjähriger am Akkordeon entwickelt hatte. Er, der im Kindergartenalter mit dem Spielen dieses Instruments begonnen hatte, sieht sich als jemand, der eigentlich von der Improvisation kommt und sich das klassische Spielen nach Noten erst später erschloss. Zudem wies er auf die fruchtbare musikalische Landschaft in Portugal hin, wo sich klassische europäische Tradition mit afrikanischer Musik trifft.

© Dr. Holger Voigt

Vielfalt, nicht Crossover

Wichtig ist Barradas jedoch, dass er trotz seines breiten Interesses für viele musikalische Richtungen kein Crossover-Musiker ist. Er schätzt durchaus die verschiedenen Disziplinen und respektiert die entsprechenden Grenzen.

Konzentrierte und beseelte Passacaglia

So geriet dann auch der Auftakt recht typisch für ein epochenübergreifendes Solo-Recital – häufig wird hier mit Bach gestartet. Leider ist es oft eher eine Pflichtübung, doch an diesem Abend war das anders: Konzentriert und beseelt arbeitete sich Barradas durch die gewaltige Passacaglia in c-Moll. In einer knappen Viertelstunde wurde mehr als deutlich, warum erstens dieses Werk schon häufig für andere Instrumente transponiert wurde und zweitens das Akkordeon in gewisser Weise geradezu prädestiniert dafür ist, als „Mini-Orgel“ mehrstimmige Werke wiederzugeben.

Uraufführung mit neuer sinnlicher Perspektive

Eine weitere Spezialität der „Rising Stars“-Reihe ist, dass jeder Künstler ein eigens für ihn geschriebenes Werk (ur)aufführt. In einer Deutschland-Premiere gab es somit das Stück „E[N]IGMA“ von Yann Robin. In Barradas‘ Worten ein Werk, das zum einen tiefgreifende Kenntnisse des Komponisten über das Akkordeon verrät, zum anderen aber auch in 15 Minuten fast alles abfordert, was mit diesem Instrument möglich ist. Tatsächlich legte der Vortrag z. B. offen, wie die Mechanik eines Akkordeons rhythmisch eingesetzt werden kann. Mit vielen verschiedenen Varianten der sogenannten „Bellowshakes“ wurde das Instrument bewegt, zum Teil auch bewusst tonlos. Das hatte bisweilen fast etwas vom Blasgeräusch eines Wals. Sicherlich war es eher nichts für Menschen, die überall in der Musik nach der wohlklingenden Melodie suchen, aber es eröffnete eine sinnliche Perspektive auf ein immer noch eher unterschätztes Instrument.

Piazzolla-Sound als sicheres Terrain

Wohl kaum noch unterschätzt wird heutzutage Astor Piazzolla. Wenngleich Barradas nicht mit dem typischen Bandoneon spielte, sondern mit einem chromatischen Knopfakkordeon, erzeugte er aus dem Stand den typischen Piazzolla-Sound. Das viersätzige „Las cuatro estaciones porteñas“, angelehnt an Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, zeigt die so charakteristischen straffen Rhythmen, abrupten Wechsel und die träumerische Melancholie des Tango Nuevo. Klar erkennbar dabei auch die vier verschiedenen Stimmungen der Jahreszeiten – frisch und beschwingt der Frühling, in flirrender Hitze schonend eingebremst der Sommer, aufgewühlt der Herbst und kristallklar der Winter. Barradas erweckte jedenfalls jederzeit den Eindruck, sich mit diesem Stoff auf sicherem Terrain zu bewegen, auch wenn der allerletzte Funke vielleicht nicht überspringen mochte.

Jazz an der Leine

Nach der Pause dann etwas ganz anderes: Barradas fügte sich in ein Jazz-Quintett ein, das Spielarten von modernem Bebop und Hardbop vorstellte. Solistische Glanzpunkte setzte dabei neben Barradas vor allem der vorzügliche Vibrafonist Simon Moullier, während Ben van Gelder am Alt-Saxofon eher blass blieb. Und auch bei Barradas entstand der Eindruck, dass er sich selbst nicht so ganz von der Leine lassen konnte oder wollte – vielleicht ist ein solches Set an einem Abend mit einem klassischen Solo-Programm doch auch etwas zu weit gespreizt. Hervorzuheben ist allerdings unbedingt die Rhythmus-Sektion, wo sich Luca Alemanno mit einem kernigen Kontrabass-Fundament ebenso auszeichnen konnte wie die Schlagzeugerin Naíma Acuña mit ihrem dichten, immer leicht verschleppten Spiel.

Insgesamt ein Abend, der das hohe technische Vermögen und die große Bandbreite von João Barradas zeigte. Woran sein Herz wirklich hängt und welche Projekte ihn in den nächsten Jahren zu einer Profilbildung bringen werden, wird die Zukunft zeigen. Für den Moment bleibt ein eher beeindruckter als begeisterter Eindruck.

Die Reihe „Rising Stars“ ist jedenfalls uneingeschränkt zu loben, auch für ihre Bildungsarbeit, deren Früchte sich auch in der aufmerksamen Präsenz von zwei Oberstufen-Schulklassen zeigte, die am Konzerttag bereits vormittags mit Barradas gearbeitet hatten. Warmer Applaus am Schluss von den ausverkauften Rängen.

Guido Marquardt, 23. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Solo:
Johann Sebastian Bach

Passacaglia c-Moll BWV 582
Yann Robin
E[N]IGMA / Kompositionsauftrag von Calouste Gulbenkian Foundation Lisbon, Casa da Música Porto, Philharmonie Luxembourg und ECHO
Astor Piazzolla
Las cuatro estaciones porteñas / Fassung für Akkordeon

Mit Band:
»The João Barradas Portrait«

 

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