Mirjam Mesak © Wilfried Hösl
Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
von Dr. Lorenz Kerscher
Dass sich die aus Estland stammende Mirjam Mesak ab Mitte 2023 auf der Leinwand zahlloser Kinos als Hauptdarstellerin eines spannenden Films präsentieren würde, war nicht vorhersehbar, als ich sie Mitte 2019 erstmals auf der Bühne erlebte. Damals zeigte das Opernstudio der Bayerischen Staatsoper eine unkonventionelle Produktion, in der Tschaikowskys Iolanta und Strawinskys Mavra, beide zu kurz für ein abendfüllendes Format, von Regisseur Axel Ranisch geschickt ineinander verwoben waren. Ganz besonders überzeugte dabei Mirjam Mesak in der Rolle von Tschaikowskys blinder und liebessehnsüchtiger Prinzessin. Ihre angenehme und klare Sopranstimme konnte engelsgleiche Zartheit ebenso aufbieten wie die Strahlkraft, um die in dem wohlbehüteten Mädchen unterschwellig aufkeimende Leidenschaft zu beglaubigen.
IOLANTA: Mirjam Mesak singt Iolantas Aria (2019)
Iolanta ist kein Drama, sondern eine sensible psychologische Studie zur Selbstfindung eines jungen Menschen. Dies in feinen Nuancen zu zeichnen, gelang Mirjam Mesak sowohl stimmlich als auch darstellerisch sehr überzeugend. Besondere Bewunderung nötigte mir die Disziplin ab, mit der sie als Darstellerin einer Blinden immer starr geradeaus blickte, sich jeden Blick zu den anderen Akteuren eisern verkniff und auch nicht zur Dirigentin blicken konnte. Im Trailer zur Produktion Mavra/Iolanta bezeichnete sie das als eine besonders große Herausforderung. Inzwischen wurde dieser außergewöhnliche Opernabend auch auf DVD veröffentlicht.
Geboren wurde Mirjam Mesak 1990 in Tallinn. Sie spielte mit großer Begeisterung Klavier und lenkte ihre ersten Schritte als Sängerin in Richtung Popmusik. Bis in Kindheitstage zurückreichend findet man in YouTube Videoausschnitte von Talentshows, an denen sie teilnahm. 2007 veröffentlichte sie laut Wikipedia ein Soloalbum und war in diesem Jahr und nochmals 2009 als Backgroundsängerin dabei, als Estland beim Eurovision Song Contest antrat. Wann sie ins klassische Genre wechselte, konnte ich mangels estnischer Sprachkenntnisse nicht genau recherchieren. Ein Videodokument zeigt sie 2010 als Solo singendes Mitglied eines Vokalensembles, das bei einem Familienkonzert klassische Klänge darbietet. Vorweisen kann sie den Studienabschluss an der Londoner Guildhall School of Music, wo sie mit Rudolf Piernay arbeitete, der einer Vielzahl erfolgreicher Schüler den Weg wies. Ganz ohne Zweifel ein guter Karrierestart war, dass sie 2018 auf der Bühne des Clonter Opera Theatre in Congleton als Mimì in La Bohème beeindrucken konnte.
Zur Spielzeit 2018/2019 wurde sie in das Opernstudio der Bayerischen Staatsoper aufgenommen. Pro Jahr bekommen vier von ca. 800 Bewerbern diese außergewöhnliche Möglichkeit, in kleinen Rollen auf großer Bühne und an der Seite bedeutender Stars in die Praxis des Musiktheaters hineinzuwachsen. Da war sie als Papagena wie auch als Taumännchen in Hänsel und Gretel zu erleben und konnte als Tänzerin Esmeralda in der Verkauften Braut neben dem Gesang auch Hochseilakrobatik üben. Als Julietta in Korngolds Die tote Stadt durfte sie sogar bei einer Produktion mitwirken, die auf DVD aufgenommen wurde. Hinzu kam noch die oben erwähnte Opernstudioproduktion mit der Talentprobe in der Titelrolle von Iolanta. 2020 brachte sie schließlich mit der Norina in Don Pasquale eine der beliebtesten Rollen des italienischen Repertoires auf die heimatliche Bühne der Estnischen Nationaloper in Tallinn.
Arie der Norina (Don Pasquale), Estnische Nationaloper
Im Jahr 2020 wurde Mirjam Mesak in das Ensemble der Bayerischen Staatsoper übernommen. Auch wenn die Coronabeschränkungen gehörig Sand ins Getriebe brachten, konnte sie doch in Rollen wie Musetta in La Bohème, Freia im Rheingold, Oscar in Un ballo in maschera und neuerdings Ännchen im Freischütz das Publikum für sich einnehmen. Auch als Waldnymphe in Rusalka oder als Blumenmädchen in Parsifal wurde sie für durchaus anspruchsvolle, nur leider wenig Beachtung findende Aufgaben eingesetzt, während die Hauptrollen an der Bayerischen Staatoper fast immer an Künstler mit sehr bekannten Namen vergeben werden. Da müssen die exzellenten Ensemblemitglieder meist in die zweite Reihe zurücktreten und werden vielleicht noch für das Kinderprogramm abgestellt, was zwar wichtig ist, aber keine Lorbeeren einbringt.
Wo an großen Opernhäusern die populären Stars im Vordergrund stehen, steigt also der Stern eines Ensemblemitglieds nicht mühelos nach oben. Manchen gelingt es, sich mit Engagements an anderen Häusern oder bei Festspielen einen Namen zu machen. Doch bei Mirjam Mesak trat der eher seltene Fall ein, dass sie für den Film entdeckt wurde. Regisseur Axel Ranisch plante einen Opernfilm und suchte dafür die Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsoper. Im Sinne hatte er eine Umdeutung des Mythos von Orpheus und Eurydike, die so weit ging, dass er die Geschlechterrollen vertauschte. Anstelle von Orpheus sollte eine im Callcenter von der Chefin schikanierte junge Frau mit traumhaft schöner Stimme treten, die sich in einen kleinkriminellen Straßentänzer verliebt. Eine reichlich phantastische Geschichte zeichnet nun das antike Mythos in der Szenerie der heutigen Zeit nach, der Tänzer erleidet eine schweren Unfall, Orphea kann ihn nur ins Leben zurückholen, indem sie ihre Stimme einem sehr zwielichtigen Agenten verkauft, der damit eine Operndiva vor dem drohendem Versagen bewahrt. „Orphea in love“ sollte der Titel sein.
Mit diesem Konzept und einer Überfülle an Phantasien im Kopf erinnerte sich Axel Ranisch nun an die Sängerin, die wenige Jahre vorher unter seiner Regie so vortrefflich die blinde Prinzessin Iolanta dargestellt hatte. Sie war genau das Doppeltalent, das er brauchte, um ein weitgestecktes Spektrum von Emotionen in Szene zu setzen wie auch verschiedene Opernausschnitte solistisch und in Duetten mit dem stimmschönen Tenor Galeano Salas zu singen. Mehr soll hier nicht verraten werden, nur vielleicht noch, dass sich das Sujet mit musikalischen und szenischen Anklängen auch an Glucks bekannte Oper anlehnt.
Dieser Film erlebte seine Premiere im September 2022 im Münchner Nationaltheater und wurde im Januar 2023 auf dem Internationalen Filmfestival Rotterdam vorgestellt. Der offizielle Kinostart in Deutschland ist am 1. Juni 2023, in einigen größeren Städten wird das Werk schon vorab gezeigt. Ab dann wird Mirjam Mesak allerorten auf der Leinwand in Erscheinung treten und wer sie als Orphea erlebt, wird beeindruckt sein und sich ihren Namen einprägen. Ich wünsche ihr sehr, dass sie dann viele Opernfreunde in den Besetzungslisten weit oben sehen wollen. Mit Videobeispielen auf ihrer Homepage weist sie schon dezent darauf hin, wie schön etwa die Desdemona in Otello oder die Elsa in Lohengrin aus ihrem Munde klingen würden. Möge sie bald die Rollen bekommen, die ihren ganz besonderen Qualitäten entsprechen!
Dr. Lorenz Kerscher,25. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist in Youtube
Offizielle Webseite von Mirjam Mesak
Agenturprofil von Mirjam Mesak
Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.
Dr. Lorenz Kerscher
„Musik ist Beziehungssache,“ so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“
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