Quelle: https://www.ingometzmacher.com/de
In einer Konzertkultur, die auf ihren alten Klassikern eingeschlafen zu sein scheint, kommt es fast schon einer Offenbarung gleich, einmal Werke zu präsentieren, die nie oder nur selten gespielt werden. Oft schrecken Orchester davor zurück, denn in einer von Geld getriebenen Welt bedeutet es auch immer ein Risiko, wenn man nicht auf die Klassenschlager setzt.
Dem WDR Sinfonieorchester ist es alleine deshalb schon hoch anzurechnen, dass sie dieses Experiment wagen. Unter der Leitung von Ingo Metzmacher (66) aus Hannover führen sie diesmal Werke auf, die ansonsten ein Schattendasein im Orchesterrepertoire fristen. Ein mit Spannung erwartetes Erlebnis für Publikum und Orchester. Aber konnten diese Werke auch begeistern? Oder sind sie zurecht heutzutage unterrepräsentiert?
WDR Sinfonieorchester
Ingo Metzmacher, Dirigent
Tanja Ariane Baumgartner, Mezzosopran
Franz Schreker – „Nachtstück“ aus der Oper „Der ferne Klang“ (1910)
Arnold Schönberg – „Erwartung“ – Monodram in einem Akt für Sopran und Orchester op. 17 nach einer Dichtung von Marie Pappenheim (1909)
Alexander Zemlinsky – „Die Seejungfrau“ – Fantasie in drei Sätzen für großes Orchester nach einem Märchen von Hans Christian Andersen (1905)
Kölner Philharmonie, 12. Januar 2024
von Daniel Janz
Die erste Komposition, Franz Schrekers „Nachtstück“, lässt sich am besten als eine Aneinanderreihung bildhafter Eindrücke beschreiben. Es ist ein hochromantischer Fluss, der einem hier begegnet. Der breite Klang, den Schreker für seine Oper „Der ferne Klang“ wählte, breitet sich hier wohlig gemütlich aus. Ein richtiger Fluss entsteht. Schläge auf das Tamtam zum vollen Streicherklang wecken hier bereits ein Gefühl der Sehnsucht an jene Ferne, die Schreker auch auszudrücken versuchte. Besonders faszinieren können die kristallenen Figuren der Streicher, Harfe und Celesta bei den in höchster Klasse vorgetragenen Soli von Klarinette und Horn. Das lädt zum Schwelgen ein; als Zuhörer wird man richtig in diese Musik hineingesogen.
Bereits hier zeigt sich, dass das in Summe eine gute Aufführung werden könnte. Orchester und Dirigent harmonieren und offenbaren dadurch echtes Gespür für den Moment. Auffällig ist der Sinn fürs Detail, den Metzmacher hier an den Tag legt. Wie er viele Einsätze ans Orchester vorgibt, auch immer wieder optische Signale gibt, ist schon raffiniert. Einmal zeigt er auch den Daumen nach oben als direktes Lob. Das ist nicht nur auffällig, sondern diesem Werk auch angemessen. In einer Musik, die zwar sehr gefühlsgeleitet fließt, aber doch den roten Faden vermissen lässt, ist er der Ruhepol, der das ganze zum Strahlen bringt und merkbar das Orchester beflügelt. Lob auch die Musiker, die hier wirklich auf Top-Niveau spielen. Das passt!
Laut Programm hätte danach Schönbergs „Erwartung“ direkt „attacca“ ohne Pause an Schrekers Stimmungsmusik folgen sollen. Glücklicherweise wird das aber doch nicht umgesetzt. Der Kontrast wäre wohl auch zu groß gewesen. Denn hier tritt mal wieder der Fall ein, dass ein Rezensent in einem klassischen Abo-Konzert mit einem Werk konfrontiert wird, das ihn absolut kalt lässt. Unter dieser Voraussetzung etwas Positives an der Musik zu finden ist generell eine Herausforderung, die in diesem Fall auch misslingt.
Denn das hier bedient mal wieder alle Klischees avantgardistischer Klangexperimente: Es ist atonal, schräg, verquer, formlos und pseudointelektuell. Dazu kommt noch ein Text voller Wiederholungen, leerer Floskeln, konfuser Ausrufe und chaotischem Wirrwarr bei fehlender Struktur… kurzum eine „Wall of Text“, bei der jeder anständige Autor erschaudern würde. Das ist Klassik zum Abgewöhnen.
Aus sowas trotzdem eine gelungene Aufführung zu zaubern, stellt schon eine maximal undankbare Aufgabe dar – sowohl für Orchester, als auch Zuhörer.
Dabei ist dies lösbar, wenn man sich bewusst macht, dass die Textgrundlage eigentlich eine Verzweiflungsszene mit anschließender Psychose darstellt. Die Protagonistin dieses Monodrams ist in insgesamt 4 Szenen auf der Suche nach ihrem Geliebten, den sie am Ende ermordet auffindet, was sie nicht wahrhaben will. Daraus könnte man ein gelungenes Stimmungsbild zaubern. Doch das setzt nicht nur eine entsprechende Inszenierung (idealerweise mit Bühnenbild) voraus, sondern verlangt auch nach entsprechend viel „Dreck“ im Klang, wenn der Text schon keine Struktur hergibt.
Beides fehlt bei der Aufführung heute. So punkten Dirigent Metzmacher und Tanja Ariane Baumgartner, Mezzosopranistin aus Rheinfelden, hier eher durch ihre Kunstfertigkeit. Zu jedem anderen Werk wäre das auch eine absolut positive Kritik; sie lassen handwerklich großes Können erkennen. Hier steht es aber dem Ausdruck des Werks entgegen. Schade ist das vor allem für Tanja Ariane Baumgartner, die wirklich alles gibt. Wenn sie nicht ihre Verzweiflung hinausjammert, schreit sie in Entsetzen oder purer Panik. Und wo sie singen darf, überzeugt sie mit Gefühl und Klarheit in der Stimme. Das lässt schon Klasse erkennen.
Auch was aus dem Orchester dazu kommt, ist scharf und pointiert. Aber leider völlig wirr, konfus und irgendwann dann auch ermüdend. Für so ein Klangwirrwarr hätte es keine 100 Musiker auf der Bühne gebraucht. Besonders, weil Schönberg in diesem Frühwerk mal wieder seine verkopfte Fortschrittsideologie auf die Spitze treibt und dadurch reine Kakophonie erzeugt hat. Die Folge: Von Anfang langweilt sich der Rezensent. Da irritiert es auch nicht mehr, als dem Cellostimmführer eine Saite reißt, sodass er sein Instrument mit dem Hintermann austauschen muss, der die Saite erneuert.
Im Gegensatz zum Gequake, Gebrumme und Getöse im restlichen Orchester wirkt dieses kleine Malheur fast unterhaltsam. In Summe ergibt das leider ein Konzerterlebnis, das man nach Meinung des Rezensenten nicht wiederholen braucht. Trotz zweier „Bravo“-Rufe beim anschließenden Applaus.
Mit Zemlinskys „Seejungfrau“ steht als Hauptwerk dann eine heute relativ unbekannte Komposition auf dem Spielplan, die dennoch das meistgespielte Stück dieses österreichischen Komponisten ist. In insgesamt 3 Szenen stellte der Zeitgenossen von Schreker und Schönberg hier die Geschichte aus Hans Christian Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ musikalisch nach. Leider aber blieb die Uraufführung hinter seinen Erwartungen zurück, sodass er das Stück zurücknahm, den ersten Satz an Marie Pappenheim verschenkte und die beiden anderen nach der Machtübernahme durch die Nazis mit in die USA nahm. Erst 1984 sollten alle drei Sätze wieder zusammengeführt und neu aufgeführt werden.
Nach dem unversöhnlichen Schönberg kann diese Musik wieder von Anfang an ergreifen. Ein tiefer, atmosphärischer Klang bildet den Einstieg in die schon bald von Streichern getragene erste Szene, in der die Seejungfrau sich der Hexe stellt, um ihre Zunge gegen 2 Beine einzutauschen und damit an Land gehen zu können. Auch wenn diesem Satz ein wenig die Konsequenz in der Ausgestaltung der Themen fehlt, so bleiben doch 2 Motive erkennbar:
Einerseits das dramatische Blechmotiv, das als eine Art Leitsignal fungiert. Und als Gegenpol das lyrische Thema der Seejungfrau, das verdächtig nach einem Thema aus dem zweiten Satz von Tschaikowskys fünfter Sinfonie klingt. Bemerkenswert ist an dieser Aufführung vor allem das prächtig gespielte Duett der ersten Geige mit dem Cello. Aber auch das Blech kann hier durch die Bank weg überzeugen. Gerade auch Trompeten und Posaunen plus Tuba legen hier eine richtig feurige Grundlage, die mal wieder vollauf überzeugt. Klasse!
Im zweiten Satz verstärkt sich dann die Inkonsequenz der Komposition. Der schillernde Einstieg fasziniert richtig, endet aber abrupt in einem Streicherreigen, der für den Geschmack des Rezensenten zu lang dauert. Hier ein paar Minuten zu kürzen hätte der Musik gutgetan, um sich von der „beige zone“ (unter Komponisten ein Ausdruck für eine wohlig, aber meist monoton klingende Phase) fernzuhalten. Dadurch entfaltet sich leider auch nicht so viel Charme, wie diese Komposition bei konsequenter Kompositionsweise hätte haben können. Denn wirklich überzeugen kann sie dort, wo sich Zemlinsky vom Einheitsklang der Streicher löst und ihn durch andere Instrumente ergänzt. Glücklicherweise wiederholt sich der farbenprächtige Einstieg und wird später auch ausgearbeitet. Hier wird es wieder spannend.
So darf man der Aufführung heute in Summe ein hohes Niveau anerkennen. Hier im zweiten Satz brillieren die Hörner. Besonders hervorragend gelingen auch die Soli an der Bassklarinette, an der Anna Dietz gastweise zeigt, was man alles aus diesem unterschätzen Instrument herausholen kann. Dazu kommt das präsente Schlagzeug, das – obwohl schwächer besetzt als bei Schreker und Schönberg – auch hier wieder punktgenau da ist.
Und gekrönt wird das von einem Dirigenten, der sichtlich Spaß hat. So, wie er auch hier jedes Detail auf Hochglanz herauskitzelt, scheint er diese Musik bis ins Mark zu fühlen.
Dadurch gelingt ein brillanter Abschlusssatz, in dem sich die Seejungfrau schließlich aus verschmähter Liebe in die Fluten stürzt und im Meerschaum aufgeht, was in einem feierlichen Epilog mit Zitaten des ersten Satzes endet. Verdient ernten Orchester und Dirigent dafür am Ende auch einen lange anhaltenden Applaus. In Summe kann man sagen – 2 von 3 Werken haben überzeugt. Man darf also mit Spannung auf zukünftige Experimente in diese Richtung hoffen.
Daniel Janz, 13. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
DVD und Blu-ray-Rezension: Franz Schreker Der Schatzgräber klassik-begeistert.de, 24. September 2023
Franz Schreker (1878-1934), DER SINGENDE TEUFEL Theater Bonn, Oper, 21. Mai 2023
Daniels Anti-Klassiker 10: Arnold Schönberg, Orchestervariation op. 31 (1928)
Sommereggers Klassikwelt 206: Alexander Zemlinskys schwieriger Lebensweg