Stellen Sie sich vor, Sie sind skandinavisch eingerichtet. Überall gedeckte Erdtöne, Pastellfarben und leicht kombinierbare Weiß- und Grautöne. Nur die Fernsehcouch ist rot, ein wenig Farbe muss sein. So wie ein dunkler Anzug viel durch ein farbiges Einstecktuch gewinnt. Eines Abends kommen Sie heim, nichts böses ahnend natürlich. Dort, wo Ihr Flatscreen an der Wand hing, steht jetzt eine Schrankwand in recht dunklem Holz. Mal angenommen, Ihre Partnerin hat das zu verantworten. Malen Sie sich doch mal den weiteren Verlauf des Abends aus…
Hector Berlioz (1803‑1869)
Roméo et Juliette, Dramatische Sinfonie op. 17
Symphoniker Hamburg
Slowakischer Philharmonischer Chor
Sylvain Cambreling / Dirigent
Catriona Morison / Alt
Cyrille Dubois / Tenor
Luca Pisaroni / Bass
Laeiszhalle, Großer Saal, 13. Oktober 2024
von Jörn Schmidt
Nun ist die Laeiszhalle nicht von einem skandinavischen Innenarchitekten eingerichtet. Der Vergleich soll nur eine Idee geben, wie es dort die letzten Jahre aussah. Cremefarben, inklusive Orgel. Von 1908 bis 1950 war eine Orgel im deutsch-romantischen Stil der Firma E. F. Walcker & Cie. verbaut. Seit 1950, bis zur Generalsanierung der Laeiszhalle, erklang dort eine Orgel des Hamburger Orgelbauers Rudolf von Beckerath, der einige Defizite nachgesagt wurden. Warum man die seinerzeit eingebaut hatte, weiß vermutlich niemand so recht. Im Rahmen der Sanierung wurde nun die Walcker-Orgel rekonstruiert. Aber erstmal zurück zu den Schrankwänden…
Schrankwände waren mal ziemlich angesagt, seit einigen Jahrzehnten gelten sie aber als Inbegriff der Spießigkeit. So wie Partykeller, Schrebergärten, Gartenzwerge usf. Damit möchte keiner mehr in Verbindung gebracht werden. Obwohl, die FAZ hatte bereits 2014 getitelt: „Das Comeback der Spießigkeit“. Autor und große Teile des Textes finden sich hinter einer Bezahlschranke, aber es wurde deutlich: Schrankwände seien wieder in, Schrebergärten und Hobbykeller auch. Trendforscher sprächen gar von einer neuen „Generation Biedermeier“.
Das eigentliche Problem mit Schrankwänden scheint mir, dass sie in Kombination mit dunklem Holz dem Raumgefühl nicht gut tun. Der Raum wirkt plötzlich viel kleiner, manch einer mag sich gar wie erschlagen fühlen. Genau so ging es mir, als ich gestern zur Saisoneröffnung der Symphoniker Hamburg den Großen Saal der wunderschönen Laeiszhalle betreten habe. Die neue alte Orgel verlieh der Bühne Schrankwand-Vibes.
Dabei ist der Umbau eigentlich eine gute Sache, man hat damit den Originalklang der Orgel in die Laeiszhalle zurückgeholt. Christoph Lieben-Seutter, der Intendant der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle, sprach gegenüber dem NDR sogar von einer „superspannenden Vervollkommnung der Laeiszhalle„.
Wo man schon mal dabei war, hat man auch die Holzwand des Instruments in den Originalzustand versetzt. Die Symbolik dahinter ist ebenfalls eine gute Sache, denn es waren die Nationalsozialisten, die die Orgel hell gestrichen hatten. Vorher war die Orgel braun… Aber ich bin mir sicher, hätte man zusätzlich zu den Historikern einen Innenarchitekten befragt, der hätte zu einem anderen Braunton geraten. Ein elegantes kühles Graubraun vielleicht. Aber über Geschmack lässt sich eh’ trefflich streiten.
Was sonst noch geschah? Sylvain Cambreling brachte Roméo et Juliette von Hector Berlioz zur Aufführung, er hat die Dramatische Sinfonie (gerne auch mal als Chorsinfonie firmierend) bereits mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg auf CD eingespielt. Das formidable Orchester wurde zur Spielzeit 2016/17 mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart zum SWR Symphonieorchester zusammengelegt.
Cambreling war in Baden-Baden und Freiburg von 1999 bis 2011 Chef und glänzte dort mit seinen Messiaen und Berlioz Zyklen. Seither hat sich sein Berlioz-Ansatz weiter verfeinert. Diese Fusion war übrigens damals ein ziemlicher Skandal. Stellen Sie sich mal vor, es gibt irgendwann mal populistische politische Mehrheiten und man fusioniert das NDR Elbphilharmonie Orchester, die NDR Radiophilharmonie und die NDR Bigband.
Das Werk weist eine ziemliche Besonderheit auf. Es werden zwar drei Sänger und ein Chor aufgeboten, ausgerechnet Romeo und Julia bleiben stumm beziehungsweise deren Part übernimmt das Orchester. So wollte es Berlioz: Solche Duette seien schon tausendmal von den größten Meistern für Gesang komponiert, „weshalb es sowohl ratsam als auch interessant schien, es mit einer anderen Ausdrucksweise zu versuchen.“
Neben sonstigen immensen Schwierigkeiten der Aufführung dieser Chorsinfonie, für mich ist die größte Herausforderung, Romeo und Julia wirklich zum Sprechen zu bringen. Also so, dass man mitleiden kann wie in einer Oper. Der Schlüssel ist so einfach gefunden wie schwierig umzusetzen: Man muss die Phantasie der Zuhörer anregen. Den Symphonikern Hamburg gelang das formidabel, und zwar mit leidenschaftlichem Spiel.
Cambreling versteht es, die überreichen Klangfarben der Partitur der Handlung und den handelnden Personen zuzuordnen, zu dosieren und dem Orchester zu vermitteln. Bewusst oder unbewusst, beim Zuhörer weckt diese Leidenschaften, was seinerseits unweigerlich Emotionen hervorruft. Und Emotionen wiederum sind mit unserem Denken, Wahrnehmen und auch unseren Vorstellungen verwoben. Diese Erkenntnis ist nicht sensationell neu, Professor Wolfgang Tunner hat dazu geschrieben (so auch in Pathos, Affekt, Gefühl – Die Emotionen in den Künsten, Hgg. Herding, K. und Stumpfhaus, B., 2004, De Gruyter). Aber wenn es so funktioniert wie in der Laeiszhalle, dann ist das hohe Kunst.
Und was die Orgel betrifft, da sprechen Sie mich bitte noch mal an, wenn ich die live gehört habe. Momentan, wie Professor Kühnel in der Rede zur Saisoneröffnung des Laeiszhalle Residenzorchesters so charmant formulierte, steckt hinter der Fassade noch keine funktionable Orgel. Ich bin mir sicher, die wird später mal genau so sensationell klingen wie heute Roméo et Juliette.
Jörn Schmidt, 13. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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