John Neumeier begeistert: Anna Karenina überwältigt mit dem Stuttgarter Ballett

Anna Karenina, Ballett von John Neumeier  Staatstheater Stuttgart, 14. März 2025 PREMIERE

John Neumeier mit den Stuttgarter Tänzerinnen und Tänzern Matteo Miccini (Lewin), Yana Peneva (Kitty), Martí Paixà (Alexej Wronsky), Miriam Kacerova (Anna Karenina), David Moore (Alexej Karenin), Mitchell Millhollin (Serjoscha), Mackenzie Brown (Dolly, Schwester Kittys und Schwägerin Annas) (Foto: RW)

Martí Paixà tanzt das ebenso überzeugend wie den großen Pas de deux auf Kittys Verlobungsfeier oder die Vereinigung mit Miriam Kacerova als Anna. Bei beiden ist die magnetische Anziehungskraft zu spüren, die mehr wiegt als jede gesellschaftliche Konvention.

Anna Karenina, Ballett von John Neumeier

Choreographie, Bühnenbild, Licht und Kostüme: John Neumeier
Kostüme Anna Karenina: Albert Kriemler
Musik: Peter Tschaikowsky, Alfred Schnittke, Cat Stevens/Yusuf Islam

Staatsorchester Stuttgart, Leitung: Mikhail Agrest
Stuttgarter Erstaufführung

Staatstheater Stuttgart, 14. März 2025 PREMIERE

von Dr. Ralf Wegner

Wie John Neumeier den Figuren aus Tolstois Roman psychologische Tiefe verleiht, ist unerreicht. Allein 10 emotional ausgefeilte Hauptrollen hat dieses Ballett mit Anna Karenina und ihrem Liebhaber Alexej Wronsky im Vordergrund. Und das Stuttgarter Ensemble tanzte herausragend und überzeugte auch darstellerisch.

Für die Rolle der Anna scheint Neumeier einen bestimmten Frauentyp zu bevorzugen. Von Weitem war Miriam Kacerova von Anna Laudere oder Olga Smirnova, die Anna in Hamburg tanzten, kaum zu unterscheiden. Das bezieht sich nicht nur auf die Optik, sondern gilt auch für Kacerovas tänzerische Perfektion und Darstellungskunst der zwischen drei Männern zerrisenen Anna (ich zähle ihren von Mitchell Millhollin sprungmächtig getanzten Sohn Serjoscha hinzu). Anna hat nicht die Kraft, wohl auch nicht den Willen, sich mit der Situation zu arrangieren.

Ihr Ehemann Alexej Karenin (David Moore) liebt sie immer noch, trotz ihrer Eskapaden, er wäre wohl sogar bereit, die Liaison mit dem Nebenbuhler zu akzeptieren. Zumindest legt der Pas de trois an Annas Gebärbett solches nahe. Trotzdem verlässt Anna Sohn und Ehemann und geht mit dem Liebhaber nach Italien. Serjoscha, Karenins und ihr Sohn, vergisst sie dort zwar nicht und schreibt ihm zahllose Karten, entwickelt aber keine Beziehung zur vom Liebhaber empfangenen gemeinsamen Tochter. Sie will nur Wronsky, für sich allein und möglichst eingeschlossen in einem nur für sie zugänglichen Spiegelkabinett.

Italien-Pas de deux: Miriam Kacerova und Martí Paixà © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Und ein böser Geist (Muschik) quält sie, von Jason Reilly mit dämonischer Kraft überzeugend auf die Bühne gebracht. Auch Wronsky kann sich seiner Wirkung nicht entziehen, so deutet es Neumeier mit dem Pas de deux Muschik / Wronksy zumindest an: Anna wird zur Gefahr für sein Seelenleben. Martí Paixà tanzt das ebenso überzeugend wie den großen Pas de deux auf Kittys Verlobungsfeier oder die Vereinigung mit Anna. Bei beiden ist die magnetische Anziehungskraft zu spüren, die mehr wiegt als jede gesellschaftliche Konvention. Der Italien-Pas deux hätte allerdings von beiden noch etwas gleitender, dem Technischen stärker enthoben getanzt sein können.

Am schwierigsten ist wohl Lewin tänzerisch zu interpretieren. Er ist ein versponnener, romantischer Einzelgänger, der ständig über das Leben im Allgemeinen und über die Landwirtschaft im Besonderen sinniert und sich bei gesellschaftlichen Anlässen eher unbeholfen benimmt. Trotz der auch von Matteo Miccini schönen Darstellung des fröhlichen, dann aber wieder tolpatschig wirkenden Lewin fehlt an Miccinis Interpretation aber etwas. Es ist die zweite, die für Lewin charakteristische metaphysische Ebene, die der Tänzer der Uraufführung, Aleix Martínez, in diese Rolle einbringen konnte. Vor allem Miccinis erstes Solo am Heuballen erreichte damit nicht die Faszination, die von Martínez ausging. Yana Peneva überzeugte als zunächst glückliche, später verzweifelte und sich den Realitäten des Lebens schließlich stellende Kitty.

Mackenzie Brown (Dolly) mit 4 ihrer 6 Kinder © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Mackenzie Brown erschien mir als von ihrem Mann Stiwa (Clemens Fröhlich) Betrogene zu jung, auch in Anbetracht ihrer doch schon dem Kindlichen entwachsenen Bühnenkinder. Der Zwiespalt einer sich in Sorge um mittlerweile 6 (!) Kinder verzehrenden Mutter, aber den Ehemann immer noch begehrenden, und auch einhausen wollenden Dolly kam so zu wenig zum Tragen. Das war bei der Hamburger Uraufführung die Paraderolle von Patricia Friza gewesen.

Wichtige weitere Partien waren mit Mizuki Amemiya als Karenin umgarnende Gräfin Lydia, Abigail Willson-Heisel als Prinzessin Sorokina sowie Alicia Torronteras als Opernsängerin gut besetzt. Alicia Torronteras tanzte neben Fernanda Lopes und Aoi Sawano auch eine der drei Ballerinen des Bolschoi-Theaters.

Anna Karenina mit ihrem Liebhaber, dem Grafen Alexej Wronsky, und ihrem Ehemann, dem Politiker Alexej Karenin (Foto: RW)

Am Ende entlud sich orkanartiger Beifall des Publikums im Stuttgarter Staatstheater und als John Neumeier die Bühne betrat erhoben sich auch die letzten Zuschauer von ihren Plätzen, um ihm zuzujubeln. Insgesamt 10 weitere Vorstellungen dieses großartigen Balletts gibt es bis Mitte Mai.

Im Übrigen bleibt anzumerken, dass sich das Stuttgarter Ballett unverändert den klassischen, technisch herausfordernden Stücken stellt. So gibt es allein in dieser Saison 26 Aufführungen von Schwanensee, Nussknacker und Don Quixote, in Hamburg unter Demis Volpi nur 10 x Nussknacker. 

Dr. Ralf Wegner, 16. März 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Stuttgarter Staatsballett, Novitzky / Dawson Staatsoper Stuttgart, 4. Oktober 2024

Sancta, Opernperformance von und mit Florentina Holzinger Staatsoper Stuttgart, 05. Oktober 2024 PREMIERE

La Fest von und mit Eric Gauthier Staatsoper Stuttgart, 19. Januar 2024

Anna Karenina in neuer Besetzung, Hamburg Ballett Staatsoper Hamburg, 8. Mai 2024

 

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