Wigmore Hall, London, 29. September 2021
Foto: Christian Gerhaher, © Wigmore Hall
Christian Gerhaher, Bariton
Isabelle Faust, Violine
Anne Katharina Schreiber, Violine
Timothy Tidout, Viola
Danusha Waskiewicz, Viola
Jean-Giuhen Queyras, Cello
Christian Queyras, Cello
Othmar Schoeck, Notturno op. 47
Arnold Schönberg, Verklärte Nacht op. 4
Hector Berlioz, Les nuits d’été op. 7 (Arrangement: David Matthews)
von Lukas Baake, London
Das Londoner Konzertpublikum hat in dieser Saison gleich mehrfach das Privileg, Christian Gerhaher in der britischen Hauptstadt erleben zu dürfen. Als Artist in Residence der Wigmore Hall hat der große Liederinterpret mehrere Konzertabende konzipiert, die über das Jahr verteilt bestritten werden.
Den Auftakt machte ein sorgfältig ausbalanciertes und leidenschaftliches Programm: Mit mehreren Instrumentalisten, denen Gerhaher schon seit langer Zeit verbunden ist, spannt er einen langen, (spät-)romantischen Bogen, der von Othmar Schoeck über Arnold Schönberg bis zu Berlioz reicht.
Die erste Konzerthälfte wurde von dem Liederzyklus Notturno des schweizerischen Komponisten Othmar Schoeck bestimmt. Anfang der 1930er Jahre entstanden und lange Zeit vergessen, wird der durchkomponierte Zyklus für tiefe Stimme und Streichquartett erst in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt auf den internationalen Bühnen gespielt. Gerhaher selbst hat bereits 2009 eine Interpretation des Stücks veröffentlicht.
Das Stück hat einen elegisch-düsteren und expressiven Gestus: Chromatische Verschiebungen, breite Streicherflächen und lange instrumentale Zwischenspiele bestimmen das Werk. Über diesen instrumentalen Unterbau werden kunstvoll die Gedicht von Nikolaus Lenau und Gottfried Keller gelegt, in denen Todessehnsucht und Schwermut die bestimmenden Themen sind. Dieser enigmatischen Charakter des Stücks wird von Gerhahers facettenreicher Stimme ideal eingefangen. Zwischen tanzendem Leichtmut und gravitätischer Schwere, unberührter Weltflucht und schmerzerfüllter Sehnsucht bewegt sich Gerhaher mühelos und fügt sich dabei selbstlos in das Ensemble ein.
Hervorzuheben ist die sichtbare Freude aller Beteiligten am gemeinsamen Musizieren, an dem die Zuschauer dank der intimen Atmosphäre der Wigmore Hall teilhaben dürfen. Das anfängliche Unbehagen des Publikums mit dem Stück – oft wird das Programmheft herangezogen und die Übersetzung des Texts verfolgt – weicht dabei schnell einem konzentrierten Zuhören und tiefer Bewunderung, die sich am Ende in einen frenetischen Applaus verwandelt.
Als instrumentales Mittelstück des Konzertabends stand Schönbergs Frühwerk Verklärte Nacht für sechs Streicher, das an den spätromantischen und expressiven Gestus des Notturno von Schoeck anschloss. Die Interpretation überzeugt dabei durch eine ungewöhnliche, aber überzeugende Tempowahl und eine ideale Abstimmung zwischen den Musikern. Insbesondere der junge britische Bratschist Timothy Ridout und sowie Christian Poltéra am Cello konnten dabei durch ein umsichtiges und inniges Spiel überzeugen.
Abgerundet wurde der lange Abend durch das Werk Les nuits d’été von Berlioz, für das der französische Komponist sechs Gedichte seines Freunds Théophile Gautier vertont hat. In Kontrast zu dem restlichen Abend versprühen die Lieder von Berlioz einen frivolen und schwärmerischen Charakter. Gerhaher verstand es erneut, seine unverwechselbare Stimme in die Weiten des Kammermusiksaals der Wigmore Hall strömen zu lassen und die Vielfalt seiner Interpretationskunst zu demonstrieren: Von der sommerlich hüpfenden Leichtigkeit des Lieds Villanelle, die er durch präzise und leichte Linien zu interpretieren verstand, bis zu der morbiden und bedeutungsschweren Atmosphäre von Sur les lagunes, die von dem warmen Timbre von Gerhaher eingefangen wurde.
Auf eine langgestreckte Stille zum Schluss folgte ein langanhaltender, euphorischer Applaus. Die Besucher der Wigmore Hall durften einen denkwürdigen Konzertabend mit Christian Gerhaher erleben, der große Lust auf die weitere Saison macht.
Lukas Baake, 29. September 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Christian Gerhaher (Bariton) und Freunde Bayerische Staatsoper, 25. September 2021