Foto: WDR / Tillmann Franzen
Kölner Philharmonie, 17. Januar 2020
Cristian Măcelaru, Dirigent
Ray Chen, Violine
WDR-Sinfonieorchester
Von Daniel Janz
Seit einigen Monaten ist Cristian Măcelaru (39) aus Timișoara in Rumänien nun bereits der neue Chefdirigent des WDR-Sinfonieorchesters und konnte bislang durchweg überzeugen. Stets präsentiert er faszinierende Mischungen unterschiedlichster Stilrichtungen und versteht es dabei auch, immer wieder mit neuen Blickwinkeln zu überraschen. So auch am heutigen Abend, wo neben den großen Komponisten Brahms und Strauss, dessen Rosenkavalier für Măcelaru ein Inbegriff der Demokratisierung in der Musik ist, auch zwei Namen vertreten sind, die sonst nicht häufig in Konzertsälen auftauchen.
Den Beginn macht ein inzwischen alter Klassiker – die so genannten Haydn-Variationen von Johannes Brahms, wobei strittig ist, ob das Material des zugrundeliegenden burgischen Wolfahrtsgesangs wirklich auf Haydn zurückgeht.
Wie bei allen Variationen steht hier die Verarbeitungskunst des Komponisten im Vordergrund. Ein Thema wird aufgegriffen, in neuer Klanggestaltung rhythmisch und harmonisch verarbeitet und so in möglichst unterschiedlichen Versionen präsentiert. Solche alten Kompositionstechniken setzen natürlich auch hohe Anforderungen an das Orchester, so ein Werk nicht langweilig zu gestalten.
Tatsächlich gelingt dem WDR Sinfonieorchester bereits hier zu Anfang eine Glanzleistung. Ob nun bei den weichen und bewusst einfühlsamen Passagen zum Einstieg, den romantischen und blumigen Farben in der ersten, dritten und siebten Variation oder der schnell schreitenden zweiten, fünften und achten Variation – das Orchester ist stets in allen Gruppen voll präsent. Auch Cristian Măcelaru besticht durch akzentgenaue Anweisungen und eine detailverliebte Gestaltung. So wird auch das Finale dieses Werkes zu einer triumphalen Steigerung mit festlichen Fanfaren und glänzenden Triangeleinwürfen.
Im Solokonzert des Abends steht stattdessen nur ein Instrument im Mittelpunkt. Henry Wieniawski, der dieses Stück im Alter von 18 Jahren komponierte, wurde zu Lebzeiten als ein möglicher Nachfolger des „Teufelsgeigers“ Paganinis betrachtet. Das Repertoire des polnischen Violinisten entstand dabei beinahe ausschließlich für den Eigengebrauch. Entsprechend schwierig ist auch sein Violinkonzert zu interpretieren.
Ray Chen (30) erweist sich dieser Aufgabe jedoch voll gewachsen. Bereits ab dem ersten Ton ist der Sohn taiwanesischer Auswanderer so voll präsent, dass er die Tutti-Stellen mit seinen ebenfalls grandiosen Streicherkollegen auswendig mitspielt. Im ersten Soloeinsatz setzt er dem dann noch einen drauf, als er die überaus schwierigen Doppelgriffe mit Flageolett bis ins höchste Register scheinbar mühelos hervorzaubert. Nicht umsonst darf der Ausnahmegeiger am heutigen Tage jene Stradivari spielen, die zu Brahms Zeiten bereits Joseph Joachim in den Händen gehalten hatte. Sein Können quittiert auch ein stürmischer Zwischenapplaus nach dem ersten Satz.
Die Leistung des Preisträgers des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs (2009) ist umso bestechender, offenbart dieses Solostück doch deutliche kompositorische Schwächen. Der mozarteske dritte Satz wirkt beispielsweise, trotz bewusst humorvoller Vortragsweise, recht beliebig. Der zweite – trotz hochromantischer Klangfarben beim Wechselspiel des Solisten mit der ebenfalls grandios spielenden Posaune sowie einem traumhaften Streicherteppich – ist arg zu kurz geraten.
Dafür entschädigt Rey Chen, der geradezu spielerisch hochvirtuose Stellen fehlerfrei und mit glasklarem Klang löst und so eine perfekte Synthese zwischen Instrument und Künstler offenbart. Auch das Orchester, das stellenweise unterfordert wirkt, kann in den Passagen, wo es hervorstechen darf, ausnahmslos punkten.
Große Sympathien kann der junge Solist am Schluss noch sammeln, als er in einer Eigenbearbeitung des australischen Volksliedes „Waltzing Matilda“ seine ganze Seele ins Instrument legt und diese ausdrucksstarken Passagen den verheerenden Buschbränden in seiner Heimat Australien widmet. Diese Geste unterstreicht noch einmal, dass man es hier nicht nur mit einem großen Künstler, sondern vor allem einem Menschen mit Herz und Einfühlungsvermögen zu tun hat.
Gänzlich aus dem Rahmen fällt das Werk von Vivian Fung, eine in Kanada geborene Komponistin chinesischer Herkunft. Dieses noch gänzlich neue Stück verdankt seine heutige Aufführung vor allem dem Engagement Măcelarus beim Festival der Neuen Musik in Kalifornien (2018), wo Frau Fung zuletzt residierte. Mit dem Werk „Earworms“ setzt sie sich nach ihren eigenen Worten mit den losen Melodiefetzen auseinander, die ihr im Alltag mit ihrem 3-jährigen Sohn täglich begegnen.
Was zunächst interessant klingt, präsentiert sich als eine episodenhafte Aneinanderreihung von häufig stark rhythmisch betonten Elementen und weckt unmittelbare Assoziationen zur Kollagetechnik Bernd Alois Zimmermanns. Diese Musik verweigert sich konsequent jeglicher Form. Stattdessen kracht, quackt, quietscht und plärrt es auf beinahe ohrenbetäubende Weise.
Dem geschulten Hörer begegnen zwar zahlreiche Zitate, so von Ravels „La Valse“, Charles Ives „Unanswered Question“, dem Kinderlied „Wheels on the Bus“ oder sogar von Lady Gaga. Diese wild durcheinandergeschmissenen Elemente werden allerdings nicht verarbeitet, sondern kulminieren schließlich im totalen Chaos und bilden dadurch leider auch keinen Hörgenuss ab. Warum man so ein absolutes Durcheinander Musikern und Publikum zumutet, bleibt wohl eine der Fantasie überlassene Frage.
Zum höchstmöglichen Genuss spielt das Orchester stattdessen bei der Suite zu Richard Strauss‘ Rosenkavalier auf. Als er die Oper 1911 vorstellte, landete der damals bereits weltberühmte Komponist einen neuen Volltreffer. Diese spätere Orchesterfassung soll dann mutmaßlich im Jahr 1944 entweder von Artur Rodinski oder seinem Assistenten Leonard Bernstein in New York zusammengetragen worden sein und erfreut sich auch heute noch größtmöglicher Beliebtheit.
Was ist das aber auch für ein Feuerwerk, das das WDR Sinfonieorchester da abfeuern darf! Schon vom ersten Ton an beeindrucken hier die vielfach geteilten Streicher in einem kaum voller vorstellbaren Klang. Die erste Oboe glänzt mit einem zauberhaften Solo bei der „Überreichung der silbernen Rose“. Flöten und Celesta brillieren mit delikaten Einwürfen zu einem warmen Klangteppich aus Streichern, Fagotten und Klarinetten. Das tiefe Blech reißt aus dieser Idylle heraus, bevor dann vom punktgenauen Schlagzeug unterstützt das ganze Orchester in einem wahren Walzer-Rausch aufgehen darf.
Dass es dafür keine „stehenden Ovationen“ gibt, liegt sicher auch daran, dass Măcelaru nach diesem fulminanten Dauerhöhepunkt noch eine kleine Zugabe spielen lässt. Mit Camille Saint-Saens Bacchanale taucht das Orchester den ganzen Saal in orientalische Klangwelten. Heiße Kastagnettenrhythmen und feurige Melodien wie aus „Tausend und einer Nacht“ jagen sich hier gegenseitig durch den Raum und schenken besonders den Bläsern noch einmal Gelegenheit, vollauf durchzuschlagen. Mit dieser Sternstunde begeistert das WDR Sinfonieorchester vollständig. Den fulminanten Abschlussapplaus haben sie sich jedenfalls redlich verdient.
Die Live-Aufnahme dieses Konzerts kann 30 Tage nach der Aufführung noch unter https://konzertplayer.wdr3.de/klassische-musik/konzert/live-wdr-sinfonieorchester-macelaru-amp-ray-chen/ angehört werden.
Daniel Janz, 19. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm:
Johannes Brahms – Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur op. 56a (1873)
Henry Wieniawski – Konzert Nr. 1 fis-Moll für Violine und Orchester op. 14 (1852)
Vivian Fung – Earworms für großes Orchester – Musik der Zeit – (2018)
Richard Strauss – Suite aus der Komödie für Musik „Der Rosenkavalier“ op. 59 (1944)
Zugabe:
Ray Chen – Bearbeitung des Volksliedes „Waltzing Matilda“ für Solo-Violine
Camille Saint-Saens – Bacchanale aus „Samson et Dalila“, op. 47 (1877)