Hamburger Pianosommer 2018: Vier Dorsche in der Karibik

Hamburger Pianosommer 2018, Axel Zwingenberger, Joja Wendt, Sebastian Knauer und Martin Tingvall,  Staatsoper Hamburg

Foto: martin-tingvall.com (c)
Hamburger Pianosommer 2018

Staatsoper Hamburg, 20. August 2018
Konzert von Axel Zwingenberger, Joja Wendt, Sebastian Knauer und Martin Tingvall

Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska

Ich würde mir nie erlauben, ein Konzert in den heiligen Hallen der Hamburgischen Staatsoper wie oben zu betiteln, hätte Martin Tingvall sein Duett mit Axel Zwingenberger nicht als “Zwei Dorsche in der Karibik” angekündigt. Aus seiner entzückenden Ansprache mit schwedischem Zungenschlag hoffe ich richtig verstanden zu haben, dass er damit fiebrig jazzende Nordeuropäer meinte. Andere Auslegungen sind mir sehr willkommen.

Die vier Dorsche, also drei Hamburger Jungs und ein “eingehanseateter” Schwede, haben sich nicht gesucht, aber schon zum dritten Mal in der Staatsoper gut gefunden. Das Spiritus Movens des Projekts, Joja Wendt, 54, ist eine Hamburger Institution. Einen Steinwurf entfernt von meiner Wohnung, wo ich diese Zeilen schreibe, in der weltberühmten Musikkneipe “Sperl” in der Brüderstraße / Ecke Wexstraße,  nahm seine Weltkarriere ihren Lauf. Dort hat ihn nämlich JOE COCKER entdeckt, gefordert, befördert und weiter an Chuck Berry gereicht… Klingt märchenhaft ist aber wahr. Joja Wendt trug während des Konzerts schwarze Lackschuhe zu schwarzem Anzug mit Krawatte.

Axel Zwingenberger, 65, ist hamburgweit  und weltweit bekannter und geschätzter Boogie-Woogie-Pianist. Er sammelt Fotos von alten Dampfloks, weil der Groove des Boogie Woogie in Texas unter den schwarzen Eisenbahnarbeitern Mitte des 19. Jahrhunderts entstand. Er spielt  Boogie-Woogie seit er 17 ist. Trug einen taubengrauen, legeren Anzug, weißes Hemd ohne Krawatte und knallrote Halbschuhe mit leicht erhöhtem Absatz.

Sebastian Knauer, 47, ist ein aus der Klassik kommender, erfolgreicher Konzertpianist. Er flirtet noch mit Pianojazz. Ist sogar vielleicht im Begriff sich zu verloben. Politisch engagiert, kann in wenigen Sätzen erzählen, woher er kommt (Klassik), wie er zu den anderen Jungs steht (“bin dankbar, dass sie mir Beethoven zu spielen erlauben”) und gibt dem Unterfangen eine wirklich und wahrhaftig edle Note. Er betont ehrlich, dass er als klassisch ausgebildeter Klavierspieler mit Jazz seine Schwierigkeiten hat. Er trug einen schwarzen Anzug, dunkles T-Shirt und Lackschuhe, schlecht geputzt.

Und dann ist da noch Martin Tingvall, 44, aussehend wie 24 mit Bäuchlein, der den anderen mächtig die Show stahl. Er kann nichts dafür. Er ist einfach der beste in der Vierer-Bande und weit darüber hinaus. Ein Schwede, in Hamburg seit 1999 beheimatet, ein Jazzer (Jazzmann gefällt mir besser), ein begnadeter Interpret und Komponist. Seine Körpersprache erinnert eher an einen Kunstmaler an der Staffelei. Die Ausdruckskraft seines Spiels hat mich restlos verzaubert. Seine Synkopen sind auf dem Weltniveau, der Anschlag geht durch Mark und Bein, sein Pianissimo ebenso. Schwarzer Anzug mit Lederkragen, schwarz-weißes T-Shirt und – dreimal dürften Sie raten? Weiße, ziemlich abgenutzte Turnschuhe.

Das Publikum hat alle vier so verschiedene Temperamente sehr fair honoriert: Tingvall bekam seinen frenetischen Applaus nach jedem Soloeinsatz,  die anderen, “unsere Jungs”, wurden mit warmem, väterlichem Applaus sehr großzügig bedacht.

Die drei Hamburger kommen nämlich aus der Mitte der hanseatischen besten Gesellschaft, also der Mehrheit der Zuschauer. Alle drei sind Söhne von Ärzten und Journalisten. Sie besuchten die renomiertesten Hamburger Gymnasien und taten danach das Unfassbare:

Statt Juristerei, Zahnheilkunde, seriösen Journalismus etc. wählten sie, bis auf Knauer, “unernste” Musik, den Jazz. Lebensgefährlich, jedenfalls in den 1968er bis 1990er Jahren. Unsichere finanzielle Verhältnisse, leichte Mädchen, harte Drogen, ständiger Kontakt zu Nichthamburgern, kein richtiges Zuhause, dauernd auf Reisen.

Und? Es hat trotzdem geklappt: sie sind gesund geblieben – privat, beruflich, finanziell gut im Sattel und einfach glücklich. Diese Glückseligkeit und unbändige Lust am Spielen (nichts anderes ist ja Jazz ) haben wir jeden Augenblick während der drei Stunden in der Staatsoper Hamburg gespürt. Das machte uns neidisch und stolz zugleich. Da begannen die grauen Köpfe im Takt zu wippen, ich habe drei Küsschen bei den Paaren gut über 70 ausgetauscht gesehen. Auf den Mund! In der Oper! In Hamburg!

Die Goldjungs auf der Bühne zeigten uns, jeder auf seine unverwechselbare Weise, sehr anschaulich, leichtfüßig und äußerst charmant, was man den beiden Steinway-Flügeln an Klang, Stimmung, Kraft und Ausdruck entlocken kann. Auch die Ansagen der Künstler vor ihren Soli waren spritzig und liebevoll vorgetragen.

Bis auf den Tingvall, der einmal aufschrie: „Ich hab Joja gesagt, dass ich nicht weiß, was ich heute Abend spiele… Jetzt weiß ich es wirklich nicht!“  Der drehte sich einmal um die eigene Achse, plumpste auf den Klavierhocker und spielte ein schwedisches Volkslied, einen einfachen Reigen, der zu einer Jazz-Sonate anschwoll. Mal pointiert und subtil, mal wild und ungezähmt…

Nach der Pause jazzten alle mit allen. Zwei Flügel, vier Jazzmänner, viele Standards, ein paar Eigenkompositionen. Ein paar Missverständnisse, vor allem zwischen Tingvall und Joja, sofort charmant zugegeben und aus der Welt geschafft. Alles wortlos, alles im Fluss der Musik. Irre.

Klavierlehrer werden die nächsten paar Wochen unter erschwerten Bedingungen ihren Schülern vermitteln müssen, warum man Tonleitern, Etüden üben, üben und nochmals üben soll, wo Boogie Woogie so leicht und so effektvoll von den Fingern geht. Aber – wie so oft – waren viel zu wenige junge Menschen an diesem Abend da. Hoffentlich steht schon längst alles auf YouTube.

Die Körpersprache sehr verschieden: ziemlich versteift, mit durchgedrücktem Kreuz (Joja Wendt), der Fokus auf Musik, beinah unsichtbar (Sebastian Knauer), dampflokartig voranschreitend, mit roten Lackschuhen sicht- und hörbar stampfend (Axel Zwingenberger) … bis zu Martin Tingvall. Für mich der veritable Star des Abends. Den muss man gesehen haben. Er tanzt, er swingt, und schaut man ihm dabei  zu, vergisst man all die  anderen. So muss man  Klavier spielen. So natürlich, so ungezwungen. Und dann… Zauberei: Er verschwindet, es gibt nur Musik.

Wir werden oft und öfter von Tingvall hören, dessen bin ich mir sicher.

Die Bühnen- und Lichtregie des  Abends war eine sehr schöne: aus dem Dunkeln taucht jeweils ein Interpret auf.  Er beginnt zu spielen, das Licht (ein einziger Spot) taucht ihn in goldenes Licht; er entwickelt seine “Sicht” des Jazz, ab einem gewissen Moment wird das Licht gedimmt, gleichzeitig nähert sich ein Kollege und beginnt seinen Part. Organisch geht Verschiedenes ineinander, bildet im Endeffekt ein Ganzes. Chapeau. Da es kein Programm gab, kann ich den Regiekünstler nicht mit Namen nennen. Aber mit dem Vornamen: danke Martin!

Die Fraktion der altersbedingten Orthodoxen war zwar deutlich in der Minderheit, saß aber ganz vorn, was den Kontakt der Musiker mit dem Publikum erheblich erschwerte. Gegrooved wurde weiter hinten, auf den günstigeren Plätzen. Vor allem Axel Zwingenberger hatte mit der eisigen Unbeweglichkeit der ersten paar Reihen zu kämpfen. Martin Tingvall bekam sein Fett bei dem schwedischen Reigen ab. Gehuste und Taschengeklapper sollten signalisieren: Was ist das wieder für ein neumodischer Schnickschnack hier! Es half nichts. Die Groove-Fraktion vereinnahmte im Laufe des Abends den Saal, so dass Standing Ovations solidarisch von dem ganzen Saal absolviert wurden.

Wir freuen uns sehr auf den Hamburger Pianosommer IV im nächsten Jahr.

Teresa Grodzinska, 22. August 2018, für
klassik-begeistert.de

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