Elphi-Publikum singt dem polnischen Countertenor barocke Koloraturen nach

Jakub Józef Orliński – Countertenor, Il Pomo d’Oro  Elbphilharmonie, Hamburg, 17. September 2024

Jakub Józef Orliński © Laurent Humbert

Jakub Józef Orliński – Countertenor

Il Pomo d’Oro

„Beyond“ – Arien und Instrumentalstücke von Monteverdi, Cavalli, Strozzi, Frescobaldi, Caccini u.a.

Elbphilharmonie, Großer Saal, Hamburg, 17. September 2024

von Jolanta Łada-Zielke

Bei Konzerten, vor allem bei Popmusik, kommt es manchmal vor, dass das Publikum mitsingt. Aber nur Jakub Józef Orliński kann den ganzen Saal dazu bringen, barocke Koloraturen (!) unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades dem Interpreten nachzusingen.

Am Dienstagabend, 17. September, hat der charismatische Countertenor die fast vollständig gefüllte Elbphilharmonie zum Mitsingen gebracht. Zwar war das Publikum auf dieses Repertoire vorbereitet, zumal die CD mit dem Programm Beyond längst erschienen ist. Aber Live-Auftritte haben den Vorteil, dass die Künstler mit dem Publikum interagieren können. Darin ist Orliński ein unbestrittener Meister. 

Richard Wagner kritisierte in Oper und Drama die italienischen Arien mit der Begründung, sie dienten nur dazu, die Stimme und die Technik des Sängers zur Schau zu stellen, vermittelten aber keinen tieferen Inhalt. Hätte der Bayreuther Meister Orliński gehört, müsste er diese Meinung revidieren.

Alles hängt vom Interpreten ab, und der polnische Countertenor ist in der Lage, jede anspruchsvolle Koloratur, jeden einzelnen Triller mit Emotionen zu füllen. Der Künstler bekennt sich in Caccinis Amarilli mia bella zur Liebe, beklagt sich in Frescobaldis Così mi disprezzate, dass seine Geliebte mit seinen Gefühlen spielt, oder versichert die Treue in Giovanni Cesare Nettis Dolcissime catene. Präzise und leicht erreichte Höhe, eine sichere, stabile Mittellage und ein starkes, fleischiges Brustregister machen seinen Gesang zu einem Genuss für das wählerischste Ohr. Seine Koloraturen funkeln wie endlose Ketten aus Edelsteinen. Hinzu kommt die körperliche Fähigkeit des Sängers.

Orliński sollte mit dem Beyond-Programm bei dem kürzlich beendeten Bayreuth Baroque Opera Festival auftreten, sagte das Konzert aber aus gesundheitlichen Gründen ab. Das italienische Barockrepertoire klingt im Markgräflichen Opernhaus großartig, aber die Bühne der Elbphilharmonie ist größer und bietet dem Künstler mehr Möglichkeiten, alle seine Fähigkeiten einschließlich Tanz, zu präsentieren. Zur Arie La certezza di tua fede aus der Oper Antonino e Pompeiano von Antonio Sartorio führt Orliński eine Breakdance-Sequenz auf, wobei er vorher seine Schuhe und Socken ausgezogen hat, um einen besseren Bodenkontakt zu haben.

© Laurent Humbert

Beyond ist ein musikalisches Monodrama aus der Epoche des Seicento, wobei sich Arien mit Instrumentalstücken wechseln. Hier beweist der Sänger auch sein schauspielerisches Können. In einer stimmungsvollen Dämmerung erklingen die ersten Takte von Ottos Arie Voglio di vita uscir aus Monteverdis L’incoronazione di Poppea. Der Solist erscheint unerwartet im Hintergrund in einem schwarzen Gewand mit goldenen Verzierungen an den Rändern, schaut sich neugierig und bewundernd um und beginnt dann zu singen. Das Gewand ist auch eine der Requisiten; für die folgenden Stücke breitet es der Sänger auf dem Boden aus, und berührt es liebevoll, wie ein Andenken an einen geliebten Menschen, bevor er es wieder anlegt.

Ein weiteres Requisit ist eine Leuchtstofflampe, deren Einsatz mit dem Inhalt von Francesco Cavallis Arie des Pompeo Magno Incomprensibil nume zusammenhängt. Mit dieser Lampe in der Hand geht Orliński ins Publikum, während das Ensemble Johann Caspar von Kerlls Sonate in F-Dur für zwei Violinen vorträgt. Die Arie L’amante consolato der Komponistin Barbara Strozzi aus dem 17. Jahrhundert singt er von einem der Balkone aus. Solche Auszeichnung dieses Stücks entspricht dem aktuellen Trend, Komponistinnen zu entdecken und zu fördern. Der Text erzählt vom Finden einer neuen Liebe und der Ungewissheit, ob sie wirklich echt ist.

Das ganze lyrisch-dramatische Liebesrepertoire ist mit einem Hauch von Humor durchzogen. Jakub scherzt pantomimisch mit dem Gitarristen Miguel Rincón. Bevor er Crinaldas Arie Son vecchia, pazienza aus der Oper L’Adamiro von Netti aufführt, wickelt sich der Solist das Gewand um die Hüften und wirft ein Tuch über Kopf und Schultern, um sich in eine bucklige Großmutter zu verwandeln. Der Text des Stücks erzählt, dass je älter eine Frau wird, umso mehr sie sich nach einem Ehemann sehnt. Der Künstler unterhält das Publikum mit seiner Interpretation, indem er seine Stimme so moduliert, dass sie stellenweise dem Kreischen einer alten Frau ähnelt.

Photographer: Julien Mignot © Warner Classics & Erato

Die zehn Musiker von Il Pomo d’Oro bilden nicht nur einen Hintergrund für Orliński. Jeder nutzt die Chance, seine Virtuosität zu zeigen, wenn auch nur bei einigen Takten. Wenn alle zusammenspielen, schaffen sie einen vollen, runden Klang. Sie stimulieren sich gegenseitig wie Teile eines einzigen Organismus, dessen Herz, voller Hingabe und Verve, die Geigerin Alfia Bakieva ist. Das lyrische Harfensolo von Margherita Burattini in Amarilli mia bella finde ich sehr bewegend. Mit Vorliebe habe ich die bravouröse Darbietung der Tamburetta von dem polnischen Komponisten Adam Jarzębski gehört, die ich noch aus der Musikschule kenne. Streichinstrumente imitieren dort das Schlagzeug.

Zuvor ist Jakub Orliński in Hamburg, vor kurzem, am 29. April in der Staatsoper, zusammen mit dem Pianisten Michał Biel, aufgetreten. Damals gab er fünfmal eine Zugabe.

Am 17. September gab es zwar nur drei Zugaben, diese haben jedoch das Publikum zum Kochen gebracht. Mit seiner gesanglichen Virtuosität und natürlichen, ungezwungenen Art gewinnt der polnische Countertenor die Herzen des Publikums. Manche Musikliebhaber scheint sein Showman-Benehmen zu stören, die allermeisten jedoch lassen sich von ihm so sehr verzaubern, dass sie sogar mitsingen – wie jetzt in der Elphi.

 

Jakub Józef Orliński – Countertenor, „Beyond“ Elbphilharmonie, Großer Saal, Hamburg, 17. September 2024

CD-Rezension: Beyond, Jakub Józef Orliński, Il Pomo d’Oro klassik-begeistert.de, 6. Oktober 2023

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