Vielleicht fange ich mit der Hymne des 1991 neu gegründeten Staates an:
“Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben,
noch wird uns lächeln, junge Brüder, das Schicksal.
Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne,
und auch wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein.”
Wie müssen sich die beiden Studentinnen Anastasiia Shevchuk und Tamara Smyrnova gefühlt haben, als sie diese Strophe von der Hauptempore des Michels sangen… Wir können uns das nur ungefähr vorstellen. Sie klangen professionell, glockenklar und präzise. Aus eigener Erfahrung weiß ich: bist Du bewegt durch den Text oder durch die Umstände… Obacht.
Anastasiia und Tamara, mit der Ukraine aufs Innigste verbunden, leisteten sich keine Kiekser. Ihre Familien, Freunde, ihre Heimat, ihr junges Land stehen in den Nachrichten weltweit an erster Stelle. Jeden Tag, jede Stunde. Die beiden sind Profis. Wachsen mit den Aufgaben.
Chapeau.
Die Tragik des Anlasses für das Konzert hatte das Publikum still gemacht. Der Applaus, der einzige Lohn der Teilnehmenden (allesamt verzichteten auf ihr Honorar), fiel am Anfang mager aus. Aber man muss verstehen; die Hanseaten stapeln tief und spenden umso generöser…
Im Laufe des Programms (sehr klug und einfühlsam von Silke Möhl zusammengestellt und unaufgeregt moderiert) erwuchsen aus behutsamem Mitklatschen einzelne Bravorufe. Die Temperatur des Saals, pardon: des Kirchenschiffs, stieg minütlich an. Am Ende war es schon eine anständige Ovation. Das Programm, ein Potpourri aus Klassik und ukrainischer Folklore, dem russisch-orthodoxen Kammerchor der Kirche des Hl. Prokopij mit sechs sakralen Stücken, etwa “aus der Göttlichen Liturgie des Hl. Chrysostomus” oder „aus der großen Fastenzeit“, sowie Auftritten der Solokünstler war rund, nicht reißerisch, nicht zu einfach und nicht zu schwer. Anderthalb Stunden professionell und präzise vorgetragene Lieder a cappella über die obligatorischen Fugen Bachs bis zu zwei richtigen Reißern:
Jehan Alain (1911 – 1940): Première Fantaisie, geschrieben 1933, eine fünfminütige Komposition für Orgel gab dem Schrecken des Krieges einen einfühlsamen, manchmal gespenstisch echten Ausdruck. Ich hörte das Brummen der Bomber kurz vor dem Abwurf, ich hörte die Stille nach dem letzten Schuss. Meisterhaft. Ein großes Dankeschön an Matthias Neumann an zugleich drei Orgeln des Michels. Auch für die Auswahl aus dem Fundus des viel zu früh im Krieg gefallenen Alain.
Der zweite Höhepunkt, an Stärke des Applaus und Bravo-Rufen gemessen, kam kurz vor Schluss. Ein schmalbrüstiger Knabe, gefühlte 18 Jahre alt, spielte Blockflöte. Solo. In dem riesigen Kirchenschiff erklang das wahrscheinlich älteste Instrument der Welt. Laut Anthropologen ist die Blockflöte aus einem Schilfrohr hervorgegangen.
Tilman Clasen spielte ein anspruchsvolles “Lacrime (Tränen) für Altblockflöte in g” von Kees Boeke. Er spielte mit solcher ursprünglichen Hingabe und Charme, dass man ihn in weißen Chiton an einem Fluss sah. Zauberhaft.
Im Laufe des Abends vergaß ich den Anlass. Die Musik trug und entspannte, sie machte die Schrecken der letzten drei Wochen irrelevant. Dann die Erkenntnis: “Wir können nicht verlieren, wir Hörer und Musiker, Komponisten und Musikstudenten!“ Wir sind im Recht, und auch wenn es manchen nicht zugänglich ist, was Kultur, vor allem Musik vermag in Menschen aufzuwecken… an diesem Abend, in dieser Kirche haben die Anwesenden, alles freie Menschen, die aus freien Stücken hier waren, einen Sieg über Barbarei errungen.
Die Kollekte fiel üppig aus, habe ich gehört. Dieses Geld wird zu gleichen Teilen an den Nothilfefonds der Hochschule und an die Diakonie Katastrophenhilfe für Ukraine übergeben.
Teresa Grodzinska, 21. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at