Tobias Gravenhorst, conducting © Lukas Narbut
Ein Verzicht auf Beifall, wie er bei Passionen häufig erbeten wird, wäre bei diesem hoffnungsvollen Finale eher unpassend. Und so brandet zunehmend begeisterter Beifall los – vollends verdient für die großartige, eindringliche Darbietung eines von christlicher Botschaft, mehr noch: von ergreifender Mitmenschlichkeit durchdrungenem kirchenmusikalischen Werkes.
Oratorium zum Karfreitag: „Stabat mater“ von Antonín Dvořák
Eva Koch Sopran
Magdalena Hinz Alt
Clemens Löschmann Tenor
Thomas Wittig Bass
Bremer Domchor
Bremer Philharmoniker
Tobias Gravenhorst Leitung
St. Petri-Dom Bremen, Karfreitag 18. April 2025
von Dr. Gerd Klingeberg
Über die Gefühle, die Maria beim Anblick ihres am Kreuz hängenden, zu Tode gemarterten Sohnes Jesus bewegten, schweigt sich die Bibel weitgehend aus. Wer dann im 13. Jahrhundert Marias mutmaßliche Empfindungen in Versen formulierte, ist ungewiss.
Dieses bewegende „Stabat mater“ hat einige Komponisten zu Vertonungen bewogen, darunter auch Antonín Dvořák. Es war der Tod seiner drei kleinen Kinder, der den gläubigen Katholiken Dvořák dazu bewog, angesichts dieser grausamen Schicksalsschläge in seiner Religion Trost und Zuflucht zu suchen. Beides fand er in den alten lateinischen Versen, die er in einer
10-teiligen Komposition als erste große tschechische Musica sacra vorlegte.
Die Aufführung des Werkes im voll besetzten Bremer Dom unter der Leitung von Domkantor Tobias Gravenhorst brachte nicht nur die Klangschönheit und Opulenz des Werkes faszinierend zum Ausdruck; sie betonte gleichermaßen die starken Aspekte persönlicher Betroffenheit und zutiefst berührenden Mit-Leidens, die das gesamte Oratorium durchziehen. Und dies erleben die Zuhörer bereits in den dunklen, schwermütig anmutenden instrumentalen Eingangstakten, die unvermutet heftig wie ein verzweifelter Aufschrei crescendieren, bevor die Chorstimmen, zunächst noch verhalten zaghaft, das Bild der weinenden Schmerzensmutter unter dem Kreuz eindrucksvoll nachzeichnen.

Überwältigende Klangdichte
Gravenhorst setzt dabei auf einen eng am Text orientierten, steten dynamischen Wechsel; bisweilen geschieht dies abrupt, oft in wohl dosierten Entwicklungen. Die prompte Umsetzung der dirigistischen Vorgaben durch den großen Domchor und die Bremer Philharmoniker vermittelt eine nie nachlassende Spannung und umhüllt die Zuhörer mit überwältigend dichten Klangwolken.
Die Optik spielt eine allenfalls untergeordnete Rolle: Die Darbietung spielt sich auf der Orgelempore ab; man sieht leider nur wenig von Chor und Orchester. Das nicht an der Brüstung, sondern etwas ungünstig zwischen beiden Klangkörpern positionierte Solistenquartett bleibt weitestgehend unsichtbar; während, wie etwa bei den beiden ersten Teilen des Oratoriums, Chorstimmen und Solisten gut harmonieren, haben es die eigentlich ausreichend kraftvollen Solostimmen daher mitunter schwer, sich aus ihrer Position hinter den Instrumenten bei manchem Orchester-Fortissimo mit fulminanten Blechbläsern durchzusetzen.

Derart dom-spezifische Akustikprobleme mindern indes nur geringfügig die ausgeprägte Expressivität der solistischen Gesänge. Thomas Wittig imponiert mit ausdrucksvoll sonorem Tiefbass; Eva Koch erhebt ihre helle, geschmeidige Sopranstimme zu strahlenden Höhen; Altistin Magdalena Hinz gestaltet überaus einfühlsam und warmtönig, während Tenor Clemens Löschmann kraftvoll und sicher intoniert, mitunter stimmlich jedoch etwas spröde wirkt.
Betroffenheit weicht himmlischer Hoffnung
Die allein dem Chor vorbehaltenen Teile III, V und VII überzeugen mit gefälligem Ernst und markanter romantischer Färbung. Fulminante Tutti-Einsätze, aber beinahe mehr noch die spannungsvollen leisen Partien gehen tief unter die Haut. Der lateinische Text mag den Zuhörern zwar nicht unmittelbar zugänglich sein, aber die grandiosen Harmonien transportieren unmissverständlich dessen ergreifend emotionale Worte und Stimmungen. Sie lassen die tiefe persönliche Betroffenheit des Komponisten, aber auch den unsäglichen Schmerz Marias erahnen. „Quis est homo, qui non fleret…“ heißt es treffend im 2. Satz – „Welcher Mensch würde nicht weinen…“ angesichts des Elends auf dieser Welt.

Die Konfrontation mit dem Tod wird mehrfach verdeutlicht in Trauermarsch-ähnlichen Abschnitten, die vom ausgewogen agierenden Orchester unter gleichmäßigen, geradezu bedrohlich anmutenden Paukenschlägen in dumpfen Klangfarben dargeboten werden.
Aber anders als viel Passionsmusiken endet das „Stabat mater“ nicht in Tod und Vergänglichkeit. Dem orchestralen Leichenbegängnis folgt die Hoffnung auf jenseitige Glückseligkeit, die Ahnung ewiger paradiesischer Freuden. In einer gelungen angegangenen Dramaturgie erheben sich alle Stimmen in stringenter Aufwärtsbewegung fortissimo höher, noch höher bis hin in himmlische Sphären, die alle vorangehenden Trauergedanken wegwischt und vergessen lässt.
Das jubelnde „Amen“ kommt wie ein gewaltiges, alles überstrahlendes Leuchten. Und bricht urplötzlich ab. Doch das vermeintliche Ende entpuppt sich als Generalpause: Mit neuem Energieschub geht es, zunächst noch eher ruhig, demütig da capo weiter hin zum etwas weniger tosenden, aber nicht minder bewegenden Schluss. Dann herrscht rundum tiefe Stille.
Ein Verzicht auf Beifall, wie er bei Passionen häufig erbeten wird, wäre bei diesem hoffnungsvollen Finale eher unpassend. Und so brandet zunehmend begeisterter Beifall los – vollends verdient für die großartige, eindringliche Darbietung eines von christlicher Botschaft, mehr noch: von ergreifender Mitmenschlichkeit durchdrungenen kirchenmusikalischen Werkes.
Dr. Gerd Klingeberg, 19. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Marko Letonja Dirigent, Die Bremer Philharmoniker Bremer Konzerthaus Die Glocke, 18. November 2024
Vielen Dank für diese Besprechung! Ich freue mich sehr darüber, dass die großartige Musik am Bremer Dom mit Ihrem Beitrag gewürdigt wird. Bitte kommen Sie wieder. Herzliche Grüße 🙋♂️
Caspar Isenberg