Charles Dutoit © Kiran West
Gabriel Fauré (1845–1924)
Pelléas et Mélisande
Joseph Haydn (1732–1809)
Cellokonzert Nr. 1 C-Dur Hob. VIIb:1
Pause
Peter I. Tschaikowsky (1840–1893)
Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64
Charles Dutoit Dirigent
Edgar Moreau Violoncello
Laeiszhalle, Hamburg, 15. Februar 2024
von Harald Nicolas Stazol
Da beugt er sich hinab, dieser Gigant unter den Dirigenten, Charles Dutoit, 87 (!!!), ganz hinab, zu einem kleinen Mädchen, das in der ersten Reihe sitzen darf. Das wird die Kleine wohl, und hoffentlich, ihr Leben lang nicht vergessen.
Da ist auch der „Musikbus Niendorf“ voll lauter, fröhlich-gespannter Kiddies, einer, „der Assi“, wie sie kosend lachen, in hellblauer Adidasjacke, die anderen Jungs nun wirklich schnieke in blau und schwarz (unbedingt weiße Sneaker!)
– und dann die 5. von Tschaikowsky.
In der Laeiszhalle kein Hauch von einem Laut. Bei „Pelléas et Mélisande“ nicht, beim Cellokonzert nicht, bei der 5. nicht – doch HALT! Gabriel Fauré?
Wollen wir mit ihm beginnen.
„Die britische Schauspielerin Patrick Campbell (1865–1940) versuchte, Fauré zu überzeugen, Pelléas et Mélisande zu vertonen. Im Frühjahr 1898 besuchte sie Fauré und berichtete von diesem Treffen wie folgt: »Seit meiner Reise nach Paris 17 Jahre zuvor hatte ich nicht mehr Französisch gesprochen, dementsprechend holprig las ich Herrn Fauré jene Stellen des Stückes vor, die meiner Ansicht nach am meisten Musik verlangten. Wie wohlwollend der liebe Fauré zuhörte, und wie demütig er sagte, er würde sein Bestes geben!« Schließlich spielte Mrs. Campbell bei der Uraufführung der Schauspielmusik Faurés am 21. Juni 1898 im Prince of Wales Theatre in London die Rolle der Mélisande.
»Sie haben mir die schönste, umfassendste, zarteste und harmonischste Empfindung beschert, die ich vielleicht bis zum heutigen Tag erlebt habe.« – mit meinem Kompliment an den Autoren des Programmheftes, Arno Lücker.
Auf dem Umschlage der Gott Amor, das Frontispiz des Gemälde aus dem Barock, das Frontispiz aber eben ein Stilleben, ein Globus, ein Cello, eine Ritterrüstung – Liebesschranken heißt der Abend des Hamburger Symphonieorchesters – und Gregory und ich sind geradezu illuminiert! Und klar, dass wir ganz am Schluss als erste stehen. Übrigens – wenn Sie beim nächsten Konzert den ersten Bravoruf hören, bin das wahrscheinlich ich, bei „Bravissimo!“ mit Sicherheit.
Prinz Pelléas liebt Mélisande, eine Erzählung von Maurice Maeterlink, dem Belgier, der nicht nur ein enzyklopädisches Werk über „Die Biene“ geschrieben auch, sondern auch ein Theaterstück, in dem Kinder nach langer, vergeblicher Reise, nun, wie ich über die Inszenierung des Thomas Ostermeier am Deutschen Schauspielhaus 1998 im „stern“ schreibe: „Die Kinder werden verrecken“. Man könnte Maeterlink auch als einen von Trauer, Einsamkeit zu Zynismus sich Wandelnden sehen, einen zutiefst enttäuschten Romantiker – ein Schicksal, dem ich hoffentlich nicht auch zum Opfer fallen werde…
Das Antidot?
Gabriel Fauré.
„If you see a fair form chase it / And if possible, embrace it“ könnte man W.H. Auden zitieren, und für den Maestro vielleicht „When you are old and grey“ des A.E. Housman.
Denn wie ein Feentanz beginnt das Poème, das natürlich von Liebe bis zum Tode handelt, wie alle große Literatur. Der 3. Satz des Werkes ist tatsächlich sehr bekannt. Wieder und wieder weise ich auf den Konzertmeister hin, der ja, manchmal hebt es ihn vom Stuhl, Adrian Iliescu, vor zwei Wochen den Solo-Part der „Sheherazade“ derart ultra spielte, ob der junge Perikles samt Bart das heute noch toppen kann? Ja, aber sowas von! Mein lieber Herr Gesangsverein, ich jedenfalls bin Fan!
Charles Dutoit. „I love him, he knew Strawinsky personally“ schreibt mir ein Berliner Dirigent – er, der dem Orchestre National de Montréal zu Weltruhm verhilft, was mich zu der Frage bringt:
Kann man ein Konzert klonen?
Denn die Aufnahme, die ich gefunden habe, ist also mit seinem Hausorchester, und weder die Tempi, die Ruhe, die Ausführung der romantischen Züge, und ja – auch der Bombast gleichen sich wie eine Saite der anderen.
„Wie ruhig und reduziert“ das Entrée der 5. Symphonie Tschaikowskys, und spätestens beim 3. Satz, dem Walzer, sieht man die Goldenen Säle des Kreml und die hellflammenden 1000 Kerzen darin, und Anna Karenina, und draußen, vor den hohen Fenstern, riesige Eiszapfen vom Dach des Palastes, und wie unschuldig-unbefleckt ist das Werk, optimistisch, so gar nichts Düsteres gibt es da (oder noch ein letztes Aufbäumen?), wie ja die „Pathétique“.
Ja, für Peter Iljitsch so ungewöhnlich, mit einer starken, freudigen Botschaft. Es ist auf die Trompeter Johannes Bartmann, Manuel Mischel und Christoph Gottwald, ebenso möchte ich die Violen hervorheben, jedenfalls jene, die vom Parkett aus zu sehen sind, die völlig Hingegebenen: Bruno Merse, István Lukacs plus Fabian Lindner.
Ohne Fehl und Tadel leiten die Bläser den so wichtigen, ruhigen 2. Satz ein, durchtragend viele Takte lang, eine außergewöhnliche Leistung, je vous le jure, ich schwöre es.
Ich möchte den Herren Achtung und Verständnis gegenüber erbitten – sie sind halt total „Old School“, vielleicht ja in unserer Cancel-Culture stirbt sowas bis auf wenige Dandies aus. Und gleich kommt ein Dandy, und spielt auf…
Prof. Günter Roth, Vater meines Begleiters, hielt die Elbphilharmonie für unsinnig, „die Akustik in der Musikhalle ist ausgezeichnet“ – ja, und heute wieder die „Tonwand“, von der ich beim Neujahrskonzert der Hamburger Symphoniker schon einmal geschrieben habe: Der Klang kommt mit Wucht eben von vorn. „Aber es ist erstaunlich, dass Hamburg zwei solcher Häuser an einem Abend füllen kann“, sagt Sir Gregory.
Vielleicht bedauern die so diskret musikliebenden Hanseaten wie eine Art Entschuldigung, vor 300 Jahren Johann Sebastian Bach nicht verpflichtet zu haben – gar nicht auszudenken, „Hamburger Suiten“? Aber genug der Spekulation – denn jetzt kommt:
Die Rote Socke.
Der junge Mann mit dem Zweiknopf offenen Hemd zum schwarzen Anzug – immer ein Zeichen äußerster Coolness, meine Herren! – und genauso cool legt Edgar Moreau mit schwarzen Locken das Haydn Konzert hin, nicht nur, dass er seinen Blick mehr den ersten Geigen zuwendet, und kaum zu Dutoit, was dem ganzen nichts nimmt: Beide Künstler sind sozusagen verschmolzen, und der Klangkörper schmiegt sich an beide, ohne Fuge.
Auch die Sohlen der Lackschuhe des Cellisten sind purpurn, wie die Loubotins zu 1200 Dollar, die Währung der Damen von Welt, er ist ein Exzentriker, in Wesen, Auftreten und Musizieren.
Wir reden hier wirklich von höchstem Kaliber:
Edgar Moreau, 1994 geboren, gewann im Alter von nur 17 Jahren den zweiten Preis beim Internationalen Tschaikowski-Wettbewerb in Moskau und zuvor den Young Soloist Prize beim Rostropowitsch-Cello-Wettbewerb in Paris. 2016 erhielt er den »ECHO Klassik« als Nachwuchskünstler des Jahres. Alle großen Cellokonzerte gehören bereits zu seinem Repertoire. Sein erstes Konzert mit Orchester gab Moreau im Alter von neun Jahren am Teatro Regio in Turin. In der Saison 2016/17 war er als »Rising Star« der European Concert Hall Organisation in den führenden europäischen Konzerthallen zu Gast.
Charles Dutoit, der edle Greis, so nah an den Geigen oder den Bratschen, als berühre er die Instrumente! Und der reine Stil des Dirigats kann nur als einfach, en naturel, ohne jegliche Eitelkeit bezeichnet werden, ein in sich Ruhender, denn auch der Haydn bekommt hier etwas Magisches, und so habe ich wieder eine Ballszene vor Augen – nun eben im Palais Esterházy.
Der „Musikbus Niendorf“ jedenfalls ist „voll“ begeistert, „cool war das“ – „kommt ihr wieder?“ –„Safe!“ (Jugendslang, das heißt in etwa „natürlich, klar!“).
Die Zugabe des Virtuosen am Cello – wieder eine Karriere, die mit Interesse verfolgt werden kann – natürlich Bach, natürlich eine Partita: Die rockigste, die ich je gehört habe.
Kein Wunder, dass man vor Ehrerbietung aufsteht im Publikum.
Denn hier soeben geschah Musikgeschichte.
Harald Nicolas Stazol, 16. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ludwig van Beethoven (1770–1827) Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 Laeiszhalle, Hamburg, 1. Januar 2023