Zum dritten Todestag von Stefan Mickisch: Sein Werk lebt weiter – und hoffentlich auch die Scham mancher allzu Anständigen

Zum dritten Todestag von Stefan Mickisch: Sein Werk lebt weiter – und hoffentlich auch die Scham mancher allzu Anständigen  klassik-begeistert.de, 17. Februar 2024

Stefan Mickisch © Wiener Konzerthaus

Wohl kaum jemand hatte die Werke Richard Wagners und anderer großer Meister stärker durchdrungen und konnte sie geistreicher, humorvoller und pianistisch famoser darstellen als Stefan Mickisch. Der aus dem oberpfälzischen Schwandorf stammende Pianist war mit seinen Werkeinführungen über viele Jahre hinweg der heimliche Star des grünen Hügels. Mit abstrusen Äußerungen zur Corona-Politik wurde jedoch er bei den stets „anständig und gerecht Denkenden“ zum Feindbild. Nicht wenige teils durchaus prominente Weggefährten sahen sich bemüßigt, sich vom einstigen Publikumsliebling öffentlichkeitswirksam zu distanzieren – wissend, dass hier jemand ganz offensichtlich in einer Ausnahmesituation war, an ihr litt und wohl auch psychisch nicht mehr ganz gesund war. Das öffentliche Eintreten auf den gleichsam am Boden liegenden Mickisch endete in dessen Tod, genauer im Suizid. So berichten es ernstzunehmende Quellen. Je öfter – nun zum dritten Male – sich der Tod Mickischs jährt, umso abstoßender wirken die Geschehnisse vor und auch nach seinem Tod. Eine Erinnerung an einen großen Künstler und an jene „Anständigen“, die meinten, sich durch herabsetzendes „Haltungzeigen“ als besonders wertvolle Menschen aufspielen zu sollen.

von Willi Patzelt

28. Juni 2006, Bayreuth. Es ist Festspielzeit. Stefan Mickisch hält am Vormittag einen Einführungsvortrag über Wagners Tristan. Nach einer knappen halben Stunde spricht er über den Liebestrank und das Ende des ersten Aufzugs: „Der Liebestrank ist letztlich eine Chiffre dafür, dass man mit Selbstmord wie auch Schopenhauer sagt nicht weiterkommt.“ Probleme, die sich vor dem Tode nicht gelöst hätten, würden sich auch danach nicht mehr lösen lassen. „Eine sehr weise Einsicht vom Schopenhauer er rät vom Selbstmord ab. Ich kann das nur unterstützen!“ Mickisch lacht herzlich und der ganze Saal mit ihm. Wie so oft in seinen Einführungen.

Heute klingt diese Passage nachzuhören auf CD nicht mehr lustig, vielmehr schaurig. Wie konnte es so weit kommen?

Es war eine fast schon furchteinflößende Atmosphäre in einem der letzten Videos, die Stefan Mickisch veröffentlichte. An einem hölzernen Schreibtisch sitzend, politisierte er wirr und in befremdlicher Stammtisch-Manier sinngemäß darüber, wie wir alle vom „Corona-Faschismus“ unterdrückt würden. Als Beleg dafür zog er unter anderem Asterix-Comics heran „in Schweinsleder gebunden“, etwas ganz Besonderes wie er nachdrücklich betonte. An anderer Stelle rief er auf: „Keine GEZ zahlen, keine Polizei respektieren“ und setzte sich auch noch mit dem Widerstandskämpfer Hans Scholl gleich. Mithin also auch das dritte Reich mit der Corona-Politik.

Wer Mickischs künstlerisches und musikwissenschaftliches Schaffen kannte, musste erschrocken sein von dem Bild, das er da Ende 2020 bot. Der Mickisch, der da krude Verschwörungstheorien verbreitete, war doch nicht jener Mickisch, den man kannte! Da saß ein Mann, der wie ausgewechselt war: sein so strahlender Intellekt, sein so großartiger Humor, seine so fesselnde menschliche Art alles wirkte wie pervertiert. Wer Herz und Verstand hatte, der sah hier einen Mann sprechen, den der Lockdown und die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen entwurzelt hatten. Er war einer sich in kurzer Zeit pandemiebedingt so stark veränderten Welt mit Rückert gesagt abhanden gekommen. Hier sprach offenbar ein Mann, der wohl psychisch nicht mehr gesund war. Dies sollten ihn die „Anständigen“ dann auch gleich zum Vorwurf machen.

Noch ein Jahr vorher war diese Entwicklung nicht abzusehen. Mickisch war ein gefeierter Star der Szene. Er war zwar nicht ein Star der ersten Reihe aber in gewisser Weise eben doch. Das von ihm nachhaltig geprägte Format des Gesprächskonzerts führte ihn mit Einführungen zu Opern und Orchesterwerken von Mozart bis Schreker, von Rossini bis Korngold durch die ganze Welt. Einem größeren Publikum wurde der Pianist ab 1998 in Bayreuth bekannt. Seine jährlichen stattfindenden Einführungsvorträge in all den Jahren nicht weniger als 450 mit circa 160.000 Gästen waren schon lange nicht mehr nur ein Geheimtipp. Für manchen Wagnerianer waren sie fast schon die eigentlichen Festspiele.

Denn wohl keiner hatte die Werke Wagners so intensiv und umfassend durchdrungen wie er. In verständlichen Worten konnte er beispielsweise den Tristan-Akkord auch solchen Leuten begreiflich machen, die in ihrem Leben vom Quintenzirkel noch nie etwas gehört hatten. Wenn Mickisch den Ring erklärte, dann erklärte er die tieferen Zusammenhänge zwischen der alten germanischen Sagenwelt, die er bis in tiefste Details studiert hatte, und großen Denkern der Moderne: Nietzsche, Schopenhauer, Bakunin, Steiner.  Mickisch hatte sie alle durchdrungen und konnte so Wagner in seinem großen intellektuellen Zusammenhang erklären.

Diese Fähigkeit, die großen Zusammenhänge nicht nur zu verstehen, sondern auch zu erklären, zeigte er vor allem am Klavier. Wenn er pianistisch brillant etwa aus der Holländer-Ouvertüre improvisatorisch in Haydns Schöpfung überleitete („Rollend in schäumenden Wellen“) und über Beethovens Klaviersonate op. 31 Nr. 2 dann wieder zu Wagner fand und den musikalischen Nexus ausdeutete. Den erklärte er regelmäßig über die Bedeutungsebenen und Sinnzusammenhänge von Tonarten und Tongeschlechtern. Denn Mickisch erkannte zutreffend, wie sehr unser kollektives Musikverständnis einer profunden Kenntnis der Bedeutung von Tonarten ermangelt, und er machte jenes Schaffen von Verständnis dazu gleichsam zur persönlichen Mission. Dass Mickisch hierbei den Quintenzirkel mit dem Tierkreis verband, konnte man sicherlich auch für abwegig halten. Doch bereichernd war diese Sicht in jedem Fall und nicht zuletzt unterhaltsam. Es ging einem schon ans Herz, wenn Mickisch begeistert ausrief: „C-Dur, das ist die Widder-Tonart!“

Ja, Mickisch war ein unglaublich unterhaltsamer Mensch, zuweilen fast schon ein Comedian. Das Publikum bog sich vor Lachen, wenn Mickisch beispielsweise das Meistersingervorspiel zum ersten Aufzug spielte und währenddessen die musikalische Gestaltung des auskomponierten Beamtentums bzgl. der Beckmesser-Motivik an dem Beispiel erklärte: Man höre gleichsam einen Musikstudenten, der in seiner Hochschule bei einem ihm nicht wohlgesonnenen Pförtner erfolglos versucht, einen Schlüssel für einen Proberaum zu ergattern. Die bloße Beschreibung solch herrlicher Episoden, eben klassischer Mickisch-Szenen, kann noch nicht einmal im Ansatz die Genialität dieses Mannes zutreffend wiedergeben. Es ist ein unschätzbares Glück, dass dieses Genie viele seiner Einführungsvorträge auf Tonträgern hinterlassen hat.

Umso erschreckender war das Verhalten jener Leute, die ihn einst schätzten und sich nun im Dezember 2020 bemüßigt fühlten, auf Mickisch bildlich gesprochen einzutreten. Es ist an jenen kruden Aussagen, die Mickisch damals tätigte, gewiss nichts schönzureden. Diese Aussagen waren nicht nur falsch, sondern regelrecht abstoßend. Und dennoch: Sie tätigte ein augenscheinlich psychisch nicht mehr ganz rund laufender Mensch. Doch dies zum Vorwurf zu machen, oder derlei in seiner Bewertung der Geschehnisse außer Acht zu lassen, zeugt nicht nur von Herzlosigkeit sondern auch von Charakterschwächen.

Als Beispiel hierfür ist Dr. Sven Friedrich zu nennen, Direktor des Richard-Wagner-Museums und somit gleichsam Hausherr in Wahnfried. In einem Facebook-Statement betonte Friedrich am 14. Dezember 2020 noch, dass er Mickisch seit gut 20 Jahren kenne und ihn als humorvollen und witzigen Interpreten und Erklärer Wagners kennen und schätzen gelernt habe. Und er stellte auch die richtige Frage: „Aber was in aller Welt ist Ihnen bloß zu Kopfe gestiegen?“. Jeder, der Mickisch schätzte, fragte sich das. Die Antwort: In jedem Falle nichts Gutes. Vielmehr Böses und vor allem hochgradig Wirres.

Und auch Friedrich erkannte dies in einem Kommentar und seinem ursprünglichen Post: „Vielleicht benötigt er wirklich Hilfe. Daran habe ich durchaus auch gedacht.“ Leider entfalteten diese Gedanken keine weiteren Früchte, leider folgten keine guten Taten. Vielmehr entzog er auf Facebook öffentlich Stefan Mickisch das „vertrauliche Du“. Zum ersten Mal in seinem Leben, wie er die Drastik des Schrittes unterstreichend eigens betonte. Folgerichtig erklärte er Mickisch auch zur persona non grata in Wahnfried.

Doch was trieb eine so honorige Persönlichkeit wie Dr. Sven Friedrich dazu, auf einen am Boden Liegenden noch weiter einzutreten? Was nützte es denn den von Mickisch leider wirklich so grob Geschmähten, nämlich den im Gegensatz zu Mickisch tatsächlich von Nazis Verfolgten, wenn Friedrich öffentlichkeitswirksam nachtrat? Und dann distanzierte sich auch noch einer der „Anständigsten unter den Anständigen“, der Dresdner Intendant Peter Theiler, gleich „ausdrücklich massiv“ von Mickisch. Welch erbärmliches Schauspiel …

Diese unsägliche Kombination aus Opportunismus und „Gratis-Mut“ fand in Stefan Mickisch ein tragisches Opfer. Und wohl kein ungewolltes: Unter dem Post Friedrichs findet man einen Kommentar von Matthias Kowalczyk, Solotrompeter an der Oper Frankfurt und Mitglied des Bayreuther Festspielorchesters: „Bravo Sven!! Tschüss Stefan Mickisch!“

Die Nachrufe auf Mickisch führten mit zwei Ausnahmen das fort, was vor seinem Tod begann: Man listete beflissen das „Sündenregister“ des „Querdenkers Mickisch“ auf und erwähnte mit kargen Worten, dass er auch ein ganz brauchbarer Pianist gewesen wäre sowie zu Wagner etwas zu sagen gehabt hätte. Von den großen Namen der Szene war es lediglich Günther Groissböck, der sich öffentlichkeitswirksam auf Twitter gegen den Münchner Kritiker Bernhard Neuhoff positionierte: „…soll das etwa der „Nachruf“ von @BR_KLASSIK auf einen der herausragendsten und größten Geister unserer Zunft sein? Streitbar hin oder her der Mann hat Epochales geleistet!“

Hervorzuheben ist ferner Alexander Wendt, der in einem hervorragenden Nachruf das Leben Stefan Mickischs angemessen würdigte. Nach Hanns Dieter Hüsch nannte er Mickisch einen „seitlich Umgeknickten“. Man könnte es kaum treffender formulieren. Seinen Nachruf endete Wendt mit: „Für die Kulturfunktionäre, die ihm das Urteil verkündeten, gilt der letzte Halbsatz in Franz Kafkas Prozess“.

Für jene, die Mickisch schätzten, lebt er gottlob in seinem Werk weiter. Er fehlt dennoch sehr. Für alle anderen, oder jene, die ihre einstige Wertschätzung für Stefan Mickisch opportunistisch abgelegt hatten, sei aber der von Wendt angedeutete letzte Halbsatz aus Kafkas Prozess drei Jahre nach dem Tode Mickisch nachdrücklich unterstrichen und auch ausgesprochen: „Es war, als sollte die Scham ihn überleben.“

Willi Patzelt, 17. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Stefan Mickisch, Richard Wagner, Die Walküre, Wiener Konzerthaus, Mozart Saal, 12. Januar 2020

Stefan Mickisch, Richard Wagner, Lohengrin, Wiener Konzerthaus

Stefan Mickisch, Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart, Theater an der Wien

Zum Tod von Stefan Mickisch klassik-begeistert.de

5 Gedanken zu „Zum dritten Todestag von Stefan Mickisch: Sein Werk lebt weiter – und hoffentlich auch die Scham mancher allzu Anständigen
klassik-begeistert.de, 17. Februar 2024“

  1. Ja, wenn ein Mensch freiwillig aus dem Leben scheidet, dann ist das immer schlimm. Punkt.
    Man sollte aber nicht der devoten Künstlerverehrung erliegen. Man könnte in diesem Zusammenhang vieles schreiben, über geohrfeigtes Personal inklusive Hausverbot zum Beispiel. Oder über mehrere Zerwürfnisse mit Verbänden. Alles lange vor Corona übrigens. Und wer sich in der Öffentlichkeit derart verquer positioniert, der muss nun mal auch mit Gegenwind rechnen. Bezeichnend, dass es niemanden gab, der zu Mickisch irgendwie durchdringen konnte. Aus der Rückschau betrachtet würde der eine oder andere Kritiker sicher gerne anders, gnädiger formuliert haben – aber Mickisch selbst war schon zuvor niemand, der beim Austeilen Mäßigung walten ließ.

    Zdenek / Wengert

  2. Zweimal im Jahr besuche ich das Grab von Stefan Mickisch und lege eine weiße Rose ab. Ich vermisse diesen so außergewöhnlichen Künstler sehr. Niemand konnte einem die Musik von Richard Wagner besser erklären. RIP.

    Ingeborg Malien

  3. Erstens: ich glaube, dass Mickisch irgendwann falsch abgebogen und weder von seiner Ehefrau noch wohlmeinenden Freunden mal zur Seite genommen worden ist (das YouTube-Video über Angela Merkels Frisur und die Asterix-Bände in Schweinsleder ließen mich Schlimmes befürchten). Zweitens: wer Rundumschläge verteilte wie Mickisch, sollte einstecken können. Das konnte und/oder wollte er nicht. Ich habe Respekt vor seiner Lebensleistung aber auch vor seinem Abgang.

    Stefan Baumann

  4. Stefan Mickisch war in meinem 82-jährigen Leben das einzige wirkliche Genie, das ich erleben durfte. Er war eine Ausnahmeerscheinung, die man unmöglich vergessen kann.

    Dr. Winfried Gründel

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