4. Akademiekonzert des bayerischen Staatsorchesters – Plädoyer für den Frieden

4. Akademiekonzert des bayerischen Staatsorchesters,  Bayerische Staatsoper, München, 7. März 2022

Vladimir Jurowski, Foto: © Wilfried Hösl

Bayerische Staatsoper, München, 7. März 2022

Vladimir Jurowski Musikalische Leitung
Sabine Devieilhe Sopran
Bayerisches Staatsorchester

von Frank Heublein

Die Bayerische Staatsoper in München reagiert am heutigen Abend auf die erschreckende Weltlage, in der Russland einen Krieg gegen die Ukraine führt. Es heißt in der Ankündigung des vierten Akademiekonzerts: „Als Kulturinstitution ist für uns der Respekt füreinander, Integrität zueinander und Dialog untereinander absolut essentiell. Nur so kann Frieden und Humanität gewährleistet werden. Um unserer aufrichtigen Solidarität Ausdruck zu verleihen, halten wir das 4. Akademiekonzert unter dem Titel: Plädoyer für den Frieden“

Vladimir Jurowski tritt ans Pult, dreht sich um und erhebt den Taktstock, um augenblicklich die ukrainische Nationalhymne zu intonieren. Das Publikum im Saal erhebt sich. Danach erläutert er, dass der Text 1862 entstanden sei. Die Melodie darauf wurde 1863 komponiert. Die erste Zeile der Hymne lautet übersetzt „Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben“. Wie fürchterlich aktuell.

Vladimir Jurowski ist Russe und hat, so sagt er, auch tiefe Verbindungen in die Ukraine. Russen und Ukrainer sind zwei unterschiedliche Völker. Die Ukraine sei ein international anerkannter unabhängiger Staat. Sein Appell: Wenn der Krieg jetzt nicht gestoppt wird, wird er auf ganz Europa übergreifen. Er verwendet das folgende Bild: Der Hunger Putins kommt beim Essen.

Schon lange vor dem Kriegsausbruch wurde das Programm des Akademiekonzerts des heutigen Abends geplant. Es ist eine Koinzidenz, dass darauf mit Brittens Sinfonia da Requiem und Ravels La Valse gleich zwei Antikriegskompositionen stehen. Jurowski hört aus dem dritten Satz von Brittens Sinfonia da Requiem, der mit „Requiem aeternam“ (ewige Ruhe) überschrieben ist, ein musikalisches Friedensgebet. Dies führt ihn zum Titel des Akademiekonzerts: Plädoyer für den Frieden!

Britten verwendet für die Sinfonia da Requiem Titel aus der christlichen Totenmesse. Allerdings besitzen die Titel der drei ineinander übergehenden Sätze Lacrymosa, Dies Irae und Requiem aeternam keine liturgische Bedeutung. Das Stück beginnt mit einem attackierenden Paukenwirbel. Ich zucke zusammen. Aggressiv, bedrohlich und Angst einflößend empfinde ich die ersten beiden Sätze.

Mein Erkennungsmerkmal von Britten ist seine für mich sehr besondere Art von Klangflächigkeit. Jurowski lässt das Bayerische Staatsopernorchester markante musikalische Wände vor mir aufbauen. Die Musik drückt mich gegen die Stuhllehne. Ich will zurückweichen. Meine Assoziation: Die Musik ist präzise wie die massenhaften fahnenbewerten Truppenbewegungen bei der Schlacht in einem japanischen Akira Kurosawa Kriegsfilm, der zu Zeiten des europäischen Mittelalters spielt. Es gibt kein Entkommen, keinen Ausweg, nur das Schlachtfeld. Die Assoziation kommt mir, da die Komposition 1940 ein Auftragswerk der japanischen Regierung zur 2600 Jahr Feier der Kaiserdynastie war.

Ich höre Instrumentengruppen, die sich scharf und in großer Gruppenstärke gegenüberstehen. Das Holz mit allem was es hat, darunter Englisch Horn, Bassklarinette und Kontrafagott wird verstärkt durch ein Altsaxophon. Fünf Hörner und sechs Personen am Schlagwerk zähle ich. Ein sehr großes Orchester, dass Jurowski präzise schneidend dirigiert. Musikalische Angriffswellen, sich überbietende Aktivität in den beiden ersten Sätzen. Im dritten Satz finden die Instrumente zusammen zu einem weichen gemeinsamen Klang. Dieser letzte Satz ist langsam und ruhig. Zuversicht breitet sich in mir aus. Der Schlachtenrauch lichtet sich in meiner Vorstellung. Die Waffen ruhen. Ich bin erschöpft und erleichtert.

Publicity photograph of British composer Benjamin Britten

Les Illuminations ist ein Liederzyklus Brittens, der den gleichnamigen Gedichtzyklus des französischen Lyrikers Artur Rimbauds vertont. Die Fanfare zu Beginn setzt die Interpretation: „J’ai seul la clef de cette parade sauvage“ – Ich allein habe den Schlüssel zu diesem wilden Possenspiel. Entschlossen stellt dies die Sopranistin Sabine Devieilhe fest. Es gilt für mich gleichermaßen. Auch ich allein entschlüssele mein inneres Empfinden, entschlüssele emotional die Komposition. Villes (Städte) stakkatohaft drängend. Phrase (Satz) gläsern fein. Antique (Antik) elegant. Royauté (Königtum) ausgelassen mondän. Marine (Seestück) nervös. Being Beauteous zart und dunkel. Parade spannungsgeladen. Départ elegisch.

Sopran Sabine Devieilhe wird allein durch Streicher untermalt. Erneut nehme ich Jurowskis hochkonzentrierte Präzision wahr, mit der er die vier Instrumentengruppen führt. Ich höre eine sehr besondere Klarheit des Klangs. In Phrase die Geigen, die fein durchsichtig eben gläsern auf mich wirken. Oder in Parade, in dem die Streicher die Stimme treiben. Die Stimme hat zumeist die emotionale Führung. Das ausgelassen Mondäne in Royauté etwa singt Sabine Devieilhe in mich hinein. Ihr warmer fester Sopran berührt mich im zart dunkeln Being Beauteous besonders.

Der stürmische Applaus wird mit einer politisch geprägten Zugabe belohnt. Vladimir Jurowski setzt sich ans Klavier und begleitet Sabine Devieilhe. Sie singt das ukrainische Volkslied „Oh, ich werde warten“ in der Bearbeitung von Boris Lyatoshynsky.

Der zweite Teil des Akademiekonzerts beginnt mit Debussys Konzertsuite Pelléas et Mélisande. Genauer: er widersetzte sich an den an ihn herangetragenen Wunsch, aus seiner Oper eine symphonische Suite zu extrahieren. Die Suite, die ich an diesem Abend höre, wurde von den Dirigenten Erich Leinsdorf und Claudio Abbado gesetzt. Es ist ein Klangfarbenspektakel. Jede einzelne Klangfarbe wird mir durch das Bayerische Staatsopernorchester leuchtend und besonders präsentiert. Erneut sorgt die außergewöhnliche Präzision des Orchesters dafür, dass im auf- und abwogenden musikalischen Fluss das konkrete Aufleuchten der einzelnen Klangfarben in mir Spannung erzeugt.

Maurice Ravels La Valse empfinde ich als dunkles mystisches Stück. Es rührt tief verborgende wahnsinnig dämonische Gefühle in mir an. Flirrende Streicher beginnen den Walzer. Der Dreivierteltakt wird stets gehalten. Der Rhythmus ist Walzer atypisch und wirkt auf mich dunkel, geradezu fremd bedrohlich. Ab und an aufkeimende fröhliche Wiener Walzer Klänge werden sofort musikalisch unterbunden. Zurückgetrieben ins Düstere. Crescendo Ausbrüche, die kurz ins Chaos driften. Eben der Krieg, der strategisch planvoll – Dreivierteltakt – in den Abgrund führt und im Augenblick plötzlich Entsetzen, Chaos, Verzweiflung und Tod bringt. Die dunkel verzweifelte Ausprägung des Tonalen. Dies kulminiert im Schlagwerk, welches das Werk mit einem ohrenbetäubenden „Kanonenknall“ beschließt.

Ich bleibe einen Moment länger sitzen. Die beiden Antikriegskompositionen geben mir unterschiedliche Ausblicke. Ich will der Friedenshoffnung Brittens so gern glauben, spüre mich zugleich persönlich der dunklen ekstatischen Bedrohung Ravels heute Abend sehr viel näher.

Frank Heublein, 08. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

Programm

Benjamin Britten

Sinfonie da Requiem op. 20
Les Illuminations op. 18

Zugabe

Oh, ich werde warten
ukrainisches Volkslied in der Bearbeitung von Boris Lyatoshynsky

Claude Debussy
Pelléas et Mélisande – Konzertsuite

Maurice Ravel
La Valse

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Vladimir Jurowski, Konzerthaus Berlin, 26. Februar 2022

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Vladimir Jurowski, Seong-Jin-Cho  Klavier, Konzerthaus Berlin, 15. Januar 2022

Benjamin Britten, War Requiem, Staatsoper Unter den Linden, Berlin

 

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