Die Oper scheint zum Selbstbedienungsladen herunter gekommen sein, wenn beliebig Texte dazu erfunden werden, wie es schon ein Hans Neuenfels in seiner Zauberflöte an der Komischen Oper beliebte, der eine zusätzliche Rolle für seine Ehefrau Elisabeth Trissennaar kreierte, oder Arien umverteilt werden wie im Don Giovanni von Peter Konwitschny, der die zweite Arie des Don Ottavio Il mio tesoro von der Donna Anna an der Seite einer lesbisch gewordenen Donna Elvira singen ließ.
von Kirsten Liese
Die älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an die Sendung Erkennen Sie die Melodie?, eine Unterhaltungsshow der siebziger und achtziger Jahre mit dem Gentleman Ernst Stankovski als Entertainer.
In der Sendung wurden, jeweils aus den Sparten Oper, Operette und Musical, kurze Szenen gezeigt, in denen Bühnenbild und Kostüme eines Werkes mit dem Gesangsstück eines anderen kombiniert wurden. Die Kandidaten mussten beide Stücke erraten. Das konnte natürlich nur auf der Grundlage gelingen, dass die gezeigten Szenen einen markanten Wiedererkennungswert hatten, also beispielsweise ein Osmin oder Bassa Selim aus Mozarts Entführung aus dem Serail in einem entsprechend orientalischen Outfit – oder eine Königin der Nacht in majestätischem Gewand vor einem Sternenhimmel erschien.
Da heute kaum noch eine Inszenierung solche typischen Landschaften, Dekorationen und Kostüme aufzeigt, vielmehr die Sänger meist in austauschbaren Alltagsklamotten auf eine trostlose Bühne kommen, würde eine solche gehobene Sendung heute keinen Sinn mehr machen.
Jüngst hatte ich Gelegenheit, mit dem Regisseur Claus Guth und der Grazer Dramaturgin Marlene Hahn in einer Radio-Sendung über solche Erscheinungsformen des Regietheaters zu diskutieren. Wir sprachen wohl weitgehend eine verschiedene Sprache, weil vor allem Frau Hahn überhaupt nicht verstand, was ich daran zu beanstanden habe, wenn ich aus dem Orchestergraben Mozart oder Verdi höre, auf der Bühne aber eine Szene sehe, die beispielsweise an Filme von Rainer Werner Fassbinder erinnert.
Ich bringe immer gerne das Beispiel vom Tamino aus der Zauberflöte: Wenn der als ein 18-jähriger Pennäler von heute mit Basecap und zerschlissenen Jeans auf die Bühne gestellt wird und dann singt Dies Bildnis ist bezaubernd schön, wirkt das unglaubwürdig, weil sich kein Jugendlicher unserer Zeit sprachlich so äußern würde. Der würde wohl eher eine Formulierung wie „die Alte ist megageil“ bevorzugen. Nun haben Regisseure meistens keine Skrupel, in die Libretti einzugreifen und der eine oder andere scheut dann auch nicht davor zurück, den Text seinem Gegenwartstransfer passend anzugleichen. Aber selbst dann, wenn der Tenor „die Alte ist megageil“ singen würde, käme die Arie nicht glaubwürdiger rüber, weil die modernisierten Verse dann nicht mit dem Ausdruck der Musik harmonieren würden.
Dafür scheint den heutigen Musiktheatermachern das entsprechende künstlerische Gespür zu fehlen, zwar reden sie von Oper als einer Kunstform, haben aber mit solchen drastischen Parallelwelten kein Problem.
Die Oper scheint zum Selbstbedienungsladen herunter gekommen sein, wenn beliebig Texte dazu erfunden werden, wie es schon ein Hans Neuenfels in seiner Zauberflöte an der Komischen Oper beliebte, der eine zusätzliche Rolle für seine Ehefrau Elisabeth Trissennaar kreierte, oder Arien umverteilt werden wie im Don Giovanni von Peter Konwitschny, der die zweite Arie des Don Ottavio Il mio tesoro von der Donna Anna an der Seite einer lesbisch gewordenen Donna Elvira singen ließ. Oder erinnern wir uns an die Salzburger Entführung aus dem Serail von Stefan Herheim, der ließ sich die Sänger reihum in den Rollen abwechseln. Das erweckte den Eindruck absoluter Beliebigkeit.
Von Frau Hahn habe ich in der Diskussion gelernt, warum Regisseure und Dramaturgen solche Eingriffe vornehmen: Sie verstehen sich als Übersetzer eines 300 Jahre alten Werks für ein heutiges Publikum.
Ich halte solche „Übersetzungen“ für überflüssig, denn entweder ist ein Stück genial und zeitlos, dass es keiner „Übersetzung“ bedarf, oder aber es erscheint seitens des Librettos tatsächlich überholt, dann wird es aber unglaubwürdig, wenn man den Versuch unternimmt, es mit der Brechstange in die Gegenwart zu katapultieren und sollte es in der Zeit belassen, in der es spielt.
Die meisten Opernfreunde gehen ohnehin nicht der Inszenierung wegen in die Oper, sondern meistens um bestimmter Sänger, Dirigenten und der herrlichen Musik selbst willen. So gesehen erscheint es auch egal, ob uns Strauss‘ Arabella heute noch irgendwas zu sagen hätte. Es ist die herrliche, überirdische Musik, die wir immer noch hören wollen, nicht das Libretto mit Sätzen wie Und du wirst mein Gebieter sein, mit dem sich eine moderne Frau von heute freilich nicht mehr identifizieren kann.
Eines würde ich gerne bei nächster Gelegenheit die heutigen Musiktheatermacher noch fragen, was ich bei der Diskussion leider versäumte: Ob sie auch noch an Bord sein werden, wenn die Eingriffe eines Tages – und ich prognostiziere, das wird in weniger als zehn Jahren der Fall sein – die Musik betreffen werden. Ich nenne das mal futuristisch die „Crossover“-Oper, die dann so aussehen wird, dass zwischen Arien und Rezitativen kleinere Einschübe von Bumm-Bumm-Musik als vermeintliche „Übersetzungshilfe“ hineinkommen. Ein paar Kostproben in diese Richtung gab es schon, denke ich an Christoph Hagel und seine Zauberflöte reloaded mit Papageno als Rapper oder an Barry Koskys Figaro mit Klezmer-Musikeinlage.
Sogar im Bereich Konzert nehmen solche Unsinnigkeiten einen Anfang. So beabsichtigt Dirigent Alan Gilbert, in der Hamburger Elbphilharmonie mit einer abgeänderten Fassung von Vivaldis Vier Jahreszeiten dem Klimaschutz Rechnung zu tragen. Als Anspielung auf aussterbende Vogelpopulationen will er die Triller weglassen, einige Passagen sollen statt Streichern Blechbläser spielen. Geht’s noch?
Jedenfalls werden sich wohl die Opernshops Gedanken machen müssen, die Accessoires auszutauschen, wenn die Crossover-Opern die Runden machen. Die Operngucker, die man dort ausleihen kann, haben ohnehin schon weitgehend ausgedient, höre ich doch allzu oft von Zuschauern, dass sie die Augen schließen. Vielleicht sollte man dann Ohrstöpsel oder Gehörschutz ins Sortiment nehmen für Leute, deren Ohren sich durch Techno- oder Discomusik beleidigt fühlen, die können dann an den entsprechenden Stellen ihre Ohren abschalten.
Kirsten Liese, 28. November 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .