„…dem Irdischen noch verbunden und doch schon fast ins Himmlische entrückt“ – Hanjo Kesting, Vorklang des Paradieses – Musikalische Streifzüge

Buchbesprechung: Hanjo Kesting, Vorklang des Paradieses, Musikalische Streifzüge  klassik-begeistert.de, 7. Mai 2024

Buchbesprechung:

Hanjo Kesting, Vorklang des Paradieses – Musikalische Streifzüge

Wehrhahn-Verlag, Hannover 2024, 589 S., € 34,00
ISBN: 978-3-98859-029-9

Wie klingt das Paradies? Werden dort Vögel singen?

von Dr. Andreas Ströbl

Man mag es mit kindlicher Phantasie glauben, wenn man das Titelbild von Hanjo Kestings neuestem Buch, „Vorklang des Paradieses – Musikalische Streifzüge“, betrachtet. Der Autor hat sich für das nach 1606 gemalte „Vogelkonzert“ von Jan Brueghel d. Ä. entschieden, um dem ins selige Jenseits weisenden Buchtitel ein optisches Äquivalent zu geben.
Sucht man in dem ungemein vielseitigen Kompendium an kleinen Schriften zu Themen aus der „Fülle des Wohllauts“, um das vom Autor angeführte Zauberberg-Zitat aufzugreifen, nach dem titelgebenden Aufsatz, so stößt man auf eine Würdigung Olivier Messiaens, den Kesting treffend als „…dem Irdischen noch verbunden und doch schon fast ins Himmlische entrückt“ charakterisiert.

In der Tat stellten für Messiaen die Vögel, von denen er rund 700 verschiedene Rufe unterscheiden konnte, eine Verbindung zwischen Erde und Himmel dar. So war er ihnen selbst verwandt und wohl auch dem Hl. Franziskus, dem er ja seine Oper „Saint François d’Assise“ widmete, und in die er ein halbstündiges Vogelkonzert integrierte. Den Vögeln gestand er eine Musikalität zu, die menschliches Vermögen übersteigt: „Trotz meiner tiefen Bewunderung für die Volkslieder der Welt glaube ich nicht, dass man in irgendeiner Menschenmusik, wie inspiriert sie auch immer sei, Melodien und Rhythmen finden kann, die die souveräne Freiheit des Vogellieds besitzen“, so Messiaen.

Anders als der Franzose, der die Vogelrufe und -melodien in von menschlichen Instrumenten spielbare Tonfolgen gleichsam „übersetzt“ hat, nahm der Finne Einojuhani Rautavaara Vogelstimmen mit dem Tonband auf und kombinierte sie in seinem „Cantus arcticus“ 1972 mit orchestralem Klang.

Das Klingende, Wohltönende, das Ideal von Musik also weist zumindest in individueller Wahrnehmung immer wieder ins Himmlische, im besten Sinne Jenseitige oder strahlt von dort auf die irdische Welt: „Wer sich die Musik erkiest, hat ein himmlisch Werk gewonnen; denn ihr erster Ursprung ist von dem Himmel selbst genommen, weil die lieben Engelein selber Musikanten sein“, so das bekannte Luther-Wort.

Also nochmal nachgefragt: Wie klingt das Paradies? Werden dort Englein singen?

Kestings Gedanken zu Anton Bruckner, genannt „Das wiedergefundene Paradies“, führen indirekt auf diesen breiten Weg, wie es im „Urlicht“ in Gustav Mahlers Zweiter Symphonie heißt, aber das dort als abweisend beschriebene Engelein dürfte Bruckner nicht erschienen sein, der „auf dem immer gleichen Grundriss neun oder zehn Kathedralen errichtet“ hat, wie Kesting auf eine entsprechende Bemerkung in der Rezeption rekurriert. Das völlige Fehlen eines Bewusstseins des eigenen Ich, wie der Autor es treffend umreißt, enthebt Bruckner tatsächlich der übergroßen Riege der Künstlernaturen, deren Schaffen mit der Suche nach dem innersten Selbst, einer Beheimatung oder Behauptung desselben in der Welt oder dem Kampf gegen Komplexe und mangelnde Akzeptanz verbunden war.

Bruckners Aufnahme in den Himmel hat Otto Böhler in einer seiner bekannten Silhouetten vermittelt, nämlich mit einer großen Schar von musizierenden Engelein und vor allem all seinen Vorgängern und Idolen; nach Liszt empfängt ihn gleich der von ihm so verehrte Wagner, der, wie Kesting weiß, nach der Widmung von Bruckners 3. Symphonie dem Österreicher „einige freundliche Worte [sagte], ohne sich weiter um ihn zu kümmern“. Halt mal, Wagner im Himmel? Sollte der trotz seines protestantischen Hintergrundes nicht noch ein paar Äonen im Fegefeuer abbrummen oder gilt für ihn der Genie-Bonus?

Und wo sind auf der Silhouette neben den Barockkomponisten, den Wiener Klassikern und den Romantikern eigentlich Meyerbeer oder Felix und Fanny Mendelssohn? Das gilt es zu bedenken; zumindest hat Kesting mit „Die Wunde Meyerbeer“ und „Nur ein schöner Zwischenfall der deutschen Musik? – Felix Mendelssohn“ diese beiden so wegweisenden Tonsetzer entsprechend gewürdigt. Was Wagner angeht, so findet man in dem Buch allein drei Aufsätze, die des Komponisten Antisemitismus, seine Geldgier und nicht zuletzt den Themenkomplex „Kunst und Religion“ beleuchten.

Ein drittes Mal gefragt: Wie klingt das Paradies? Wird dort Rossinis „Petite Messe solennelle“ ertönen?

„Mit Musik zum Paradies“ heißt Kestings Aufsatz zu dem Werk, das Rossini Gott anempfahl und in seiner Widmung bekannte: „Ein wenig Gelehrsamkeit, ein wenig Herz, das ist alles“. Die Zeilen enden mit einer Bitte: „Sei also gepriesen und gewähre mir das Paradies“. Als „für die Opera buffa geboren“ hatte er Zweifel an der Heiligmäßigkeit seiner Messe. Dies Zitat ist übrigens dem Buch vorangestellt.

Es ist allerdings müßig, noch mehr an Paradies-Leitmotivik in Kestings Buch zu suchen; der Titel ist ein gelungener Aufhänger, um Lust auf die Sammlung zu machen, die in ihrem Facettenreichtum in alle anderen, auch sehr weltlichen, teils schmerzlichen Bereiche dessen führt, was bei Streifzügen in der Welt der Musik anzutreffen ist.

Das Kompendium umfasst 24 Komponistenportraits von Mozart bis Henze und widmet sich dann in einem guten Dutzend Beiträgen berühmten Interpreten, in denen man Dirigenten und Musikern begegnet. In dem Abschnitt „Erkundungen“ untersucht Kesting spezielle Aspekte und Einzelwerke wie der genannten Rossini-Messe, aber auch Ereignisse und Erscheinungen von kulturwissenschaftlichem Interesse im musikalischen Kontext.

Ein wesentlicher Teil stellt bekannte Musikbücher vor und solche, die es zu lesen lohnt, die aber weniger im allgemeinen feuilletonistischen Fokus stehen; hierunter finden sich auch gleich zwei Publikationen über Wagner. In der Abteilung „Gespräche“ können die Leser an Begegnungen Kestings mit Komponisten und Musikwissenschaftlern teilhaben, während zwei Collagen die literarische Mozart-Rezeption und die Brieffreundschaft Tschaikowskys mit Nadeshda von Meck beleuchten.

Das Buch ist durchweg vom typischen, essayistischen Stil Kestings mit kenntnisreichen Querverweisen geprägt, aber der Anhang mit Anmerkungen, Nachweisen und einem ausführlichen Register erfüllt auch wissenschaftliche Ansprüche, sodass man mit dem Buch auch gut arbeiten kann, wenn man es nicht als vergnügliche, geistreiche Lektüre Stück für Stück verschlingt.

Wenngleich sich das Buch, wie es auf dem Rückseitentext heißt, als „unsystematischen Streifzug durch die Musikgeschichte“ versteht, so wird man in einem musikalischen Paradies doch an allererster Stelle Johann Sebastian Bach antreffen. Auf Otto Böhlers Silhouette sitzt der Meister als erster der in diesen sehr christlichen Olymp erhobenen Schar ganz rechts an der Orgel und gibt den Engelein vor, zu was sie mit ihren Instrumenten spielen müssen. Vielleicht darf man ja auf eine baldige Publikation Kestings zu Bach hoffen!

Dr. Andreas Ströbl, 7. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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