Hansjörg Albrecht, Dirigent
Sopran: Valentina Farcas
Mezzosopran: Laila Salome Fischer
Tenor: Jussi Myllys
Bass: Tareq Nazmi
von Elżbieta Rydz
An diesem Abend werden in Beethovens Missa Solemnis unverkennbar die Merkmale seines eigenen leidenschaftlichen Ausdruckswillens hörbar. Groß in der Geste, elementar und monumental zugleich, entwickelt sich ein flammendes Pathos.
Als junger rheinischer Rebell nach Wien zugezogen, mit dem Freimut eines Jakobiners verkehrte Beethoven in den Salons seiner aristokratischen Freunde als Gleicher unter Gleichen. Was für ein Unterschied zur Ärmlichkeit des elterlichen Hauses, wo der trinkende Vater der Mutter Beethovens und seinen sechs Geschwistern viel zu viel Kummer bereitete.
In Beethovens Schaffen entwickelte sich die Musik immer bewusster zur gesellschaftlichen Funktion, die Sinfonie zum Appell und der Konzertsaal zum Tribunal. Er selbst schrieb 24-jährig an den befreundeten Verleger Simrock: „Wer würde in unseren demokratischen Zeiten noch so eine Sprache annehmen.“
Die Missa ist die Krönung im Ringen um neue gewaltige Inhalte, um die gültige Gestaltung großer an die Menschheit appellierender Ideen, auch um neue Schreibweise und Schaffensmethoden. So bildet die stark vergrößerte, bereicherte und dramatisierte Gestalt der Missa den krönenden Abschluss in Beethovens Leben.
Versteht man Beethoven als Ideenmusiker, Dichter und Denker in Tönen, der Themen und Motive immer wieder neu formuliert, so entwickelt sich die persönliche Empfindung an diesem Abend zum Tongemälde, in dem seine Idee vom Landleben, vom Verhältnis des Menschen zur Natur, der Idee vom Kampf mit dem Schicksal, der Idee von allgemeiner Freude und Menschenverbrüderung hörbar werden. Um es mit Beethovens Worten auszudrücken: „So höre und sehe ich das Bild in seiner ganzen Ausdehnung.“
Direkt nach dem Kyrie setzen der Chor und das Orchester zum Gloria an: in atemberaubendem Tempo, immerwährend und weiterziehend, schon fast zu dominierend die Berliner Symphoniker, der souveräne Chor lässt sich nicht aus dem Konzept bringen.
Mutig die Einbindung der „Pinus“-Uraufführung der Wienerin Johanna Doderer nach dem Gloria. Wachstum, Bewegung, pulsierendes Leben, der Prozess der Menschwerdung, friedliche Klanggemälde in einleuchtenden Harmonien. Für mich ist das Scherzo-Pinus, im Auftrag des Dirigenten Hansjörg Albrecht geschrieben (das gesamte Orchesterstück „The Trees“: forest, pinus, the crown, light) auch unverkennbar eine Parallele zu Beethovens unruhigen politisch revolutionären Zeiten. Ich höre marschierende Freiwillige, die für ihre Freiheit, Unabhängigkeit kämpfen, wie heute wieder in Europa. Muss das „große“ Menschsein wieder mit Blutvergießen und Tod von Individuen erkämpft werden?
Jeder Mensch hat nur dieses eine Leben.
Ich bin gespannt und freue mich sehr darauf, das gesamte Stück „The Trees“ künftig zu hören.
Wenn ich einen Wunsch für meine Begeisterung offen hätte: Die Solisten sind in jeder einzelnen Stimme und Partie sehr gut, dennoch entsteht an diesem Abend nicht die gewünschte Struktur in den Passagen. Die Sopranistin Valentina Farcas nimmt die schwierigsten Intervallsprünge scheinbar mühelos, die hohen Einstiegstöne sind sicher, kristallklar und selbstbewusst platziert, eine Verbundenheit zwischen Kopf und Bruststimme scheint ihr wie ihre Bühnenpräsenz in die Wiege gelegt worden zu sein.
Nichtsdestotrotz – es mag an der brillant platzierten Sopranistin oder an meinem Sitzplatz liegen: durch das sehr starke Vibrato werden die anderen Solostimmen übertönt. In solchen Fällen denke ich mit einem verschmitzten Lächeln und ganz unprätentiös: Die alte Laeiszhalle ist schon durchaus eine Diva.
Elżbieta Rydz, 12. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ludwig van Beethoven, Missa Solemnis, Großer Saal der Laeiszhalle Hamburg, 10. Mai 2022
Ludwig van Beethoven, Missa Solemnis, Großer Saal der Laeiszhalle Hamburg, 10. Mai 2022