Klassik und Kultur in Zeiten der Krise: Was bewegt Musiker angesichts von Krankheit und Tod?
„Wenn irgendjemand auf der Suche nach einem Halt in heutiger Zeit sein sollte, nach einem Anker, der das Schiff in aufgewirbeltem Strom sicher hält und diesen für Gott hält – er wird ihn in der Musik, im gemeinschaftlichen Gesang finden.“
Foto: Symphonischer Chor Hamburg © Jutta Schwolow
Der Apotheker Wilfried Feldhusen, 57, aus Wingst (Niedersachsen) ist ein profilierter Chorsänger. Der Bass – er fing im 5. Lebensjahr mit dem Chorsingen an – singt im Symphonischen Chor Hamburg und in Chören der St.-Petri-Kirche in Cuxhaven. Wilfried Feldhusen spielt auch auf höchstem Niveau Posaune, etwas Klavier und widmet sich als Imker mit Herz und Blut seinen Bienen sowie dem Zeichnen und Malen. Lesen Sie bitte seine Corona-Impressionen.
von Wilfried Feldhusen, Wingst (Niedersachsen)
Ein Tag jagt den anderen. Im Zeitraffer verläuft Vergangenheit als Wechsel zwischen Dunkel und Hell, Jahreszeiten mit Kälte oder sommerlicher Trockenheit. Irgendwie sollte es weitergehen, trotz Klimawandels, trotz politischen Gewitters um medienwirksame Vorteilsnahme, Flüchtlingskrise und Generationenkonflikt – uns geht es doch gut, dem Exportweltmeister, dem wirtschaftlichen Garanten unter allen europäischen Nationen; dem Problemlöser und sozialkompetentem Schwert jeden gordischen Knoten zu zerschlagen… und nun?
Eine gefühlte Smogwolke gleich dem Nebel über London scheinen Ausgelassenheit, gesellschaftliche Freude und Besorgnislosigkeit zu stigmatisieren. Die frühlingshaften Effloreszenzen der Kirschblüten und der Kamelienblüten sind wie der Zuckerrand eines Aperitifglases im vereisten Schockzustand. Der Atem stockt, das Herunterschlucken ist gelähmt, ein hochfrequenter Ton untermalt jegliche akustische Wahrnehmungen, imaginäre x-ray durch Nanoteilchen in Braunscher Molekularbewegung. Sie diffundieren im zur Verfügung stehenden Raum – der Raum sind auch wir.
Angst geht um. Das Kaninchen verharrt in Schockstarre vor der Schlange. Sechzig Prozent Durchseuchung – wir schaffen das?
Vielleicht versterben drei bis fünf Prozent von uns allen, das hieße, dass wir uns im Symphonischen Chor Hamburg von sechs Chorschwestern und Chorbrüdern trennten?
Es ist so wie beim Untergang der Titanic: Das Orchester spielt das „Say GoodBye“, während die dem Schicksal des Untergangs Geweihten den eisigen Fluten überlassen werden und in der unendlichen Tiefe der nächtlichen See versinken.
Es ist vorbei – wie heißt es in „Nänie“ von Johannes Brahms zum Tode seines befreundeten Malers Anselm Feuerbach – “auch das Schöne muss sterben.“
Deutlich wie lange nicht mehr zuvor wird uns die Endlichkeit menschlicher Existenz unmissverständlich und drastisch vor Augen geführt. Da beruhigt nicht der Entfernung vorgaukelnde Schleier des Internets oder des „Fernsehens“ – wir sind „dran“.
Und die Musik? Vermag sie uns zu helfen, nicht nur als ein verzweifelter Aufschrei, die entfesselte Seele aus tiefer Not zu befreien?
Nein: die Musik macht uns zu wahren Menschen. Sie setzt uns ein Zeichen. Wir gehören zusammen in der Begeisterung für die klassische Musik von Bach, Beethoven und vielen anderen bedeutungsschweren Schöpfern überirdischer Schönheit wie auch für die Moderne…