Daniels Anti-Klassiker 56: Warum immer das Gleiche?

Daniels Anti-Klassiker 56: Strawinskys „Sacre du printemps“  klassik-begeistert.de, 26. Januar 2025

Russian-born composer and conductor Igor Stravinsky © Neale Osborne

Irgendwann sollten eigentlich alle Klischees erkannt sein. Doch die Aufführungspraxis schafft stets neue. Obwohl unser Autor bereits über 50 Klischees in der Klassischen Musikkultur behandelte, ist ein Ende noch nicht in Sicht. Deshalb widmet er noch fünf weitere Folgen so genannten „Klassikern“, von denen man derart übersättigt wird, dass sie zu nerven beginnen. Auch dies sind natürlich keine minderwertigen Werke. Doch durch ihre fast fundamentalistische Stellung im Konzertbetrieb ist es an der Zeit, auch ihnen teils sarkastisch, teils brutal ehrlich zu begegnen, um zu ergründen, warum sie so viel Aufmerksamkeit erhalten.

Unsere Konzertprogramme sind auch deshalb so einseitig, weil Paradestücke wie Strawinskys „Sacre du printemps“ alles andere verdrängen

von Daniel Janz

29. Mai 1913: Es kommt zu einer geschichtsträchtigen Erstaufführung im Théâtre des Champs-Élysées, Paris. Der frisch durch „Feuervogel“ und „Petruschka“ berühmt gewordenen Komponist Igor Strawinsky sorgt mit seinem neuesten Werk für einen handfesten Skandal. Tumulte, Schlägereien und sogar ein Polizeieinsatz stören die Uraufführung seines „Sacre du printemps“ so sehr, dass zeitweise das Zuendebringen der Aufführung fraglich ist. Nichtsdestotrotz erlebt der „Sacre“ danach fulminante Erfolge in konzertanten Aufführungen. Rasant wird er zum weltbekannten Klassiker, als könnte nichts seinen Siegeszug stoppen… zum Leidwesen aller, die danach kamen.


Der „Sacre“ ist berühmt berüchtigt für seine Entstehungsgeschichte. Als einer der Vorreiter „Neuer Musik“ ist er eine der wenigen Kompositionen „moderner“ Klangsprache, die auf häufige Aufführungen kommt. Damit ist er inzwischen zu DEM Klischeestück der Moderne geworden. In einigen Konzerthäusern erklingt er sogar mehrfach im Jahr, was ihn weit vor andere Vertreter, wie Prokofjews Skythische Suite, Barbers „Adagio for Strings“, Arvo Pärts „Fratres“ sowie vor vernachlässigte Komponisten, wie von Charlotte Sohy, Lili Boulanger oder Penderecki katapultiert.

Man kann es Strawinskys Frühlingsopfer aber auch nicht verdenken. Die hier in Musik (und Tanz) gegossene Geschichte ist voller roher Ursprünglichkeit des Lebens. Auch kompositorisch raubt der „Sacre“ einem bis heute den Atem, obwohl man ihm nachsagen könnte, dass er als erweitertes oktatonisches Skalenexperiment auf nur einer Akkordkonstruktion aufbaut. Sein Ruf, endgültig zementiert durch den Skandal zu seiner Uraufführung, ist jedenfalls bis heute legendär.

Durch diese Legendenbildung rund um seine Entstehung und durch seine Kompositionsweise ist er aber auch Opfer genau der Mechanismen, die in dieser Anti-Klassiker-Reihe immer wieder angesprochen wurden. Einerseits verdrängt er durch seine Stellung und Bekanntheit andere Werke mit ähnlicher Stilistik, die womöglich ähnlich spannend, wenn nicht sogar beeindruckender sind. Auf der anderen Seite führt dieser Ruhm zu einer schon fast inflationären Aufführungspraxis. Wenn ich den „Sacre“ mal wieder irgendwo im Programm sehe, ergreift mich inzwischen nicht mehr Freude auf ein Klangspektakel, sondern Gleichgültigkeit.

Befeuert wird dieser Umstand gerade dadurch, dass er alles andere als leicht zu spielen ist. Durch seine ständigen rhythmischen Verschiebungen, unüblichen Instrumentenlagen, häufige Taktwechsel und ungewohnten Harmonien, beißen sich selbst Orchester von Weltniveau regelmäßig die Zähne an ihm aus. Ich habe noch nie eine Aufführung erlebt, die mich restlos glücklich oder wenigstens zufriedengestellt hat. Es ist, als wäre dies ein Stück für die Aufnahme, bei der man so oft wiederholen kann, bis jede Stelle sitzt. In Live-Aufführungen ist er regelmäßig eine Enttäuschung.

Natürlich muss man fragen, ob das nicht auch am Programm des Werks liegt. Die Schilderung eines heidnischen Menschenopfers im vorzeitlichen Russland mag an und für sich harter Tobak sein. Bis heute wird spekuliert, dass dies zum Skandal bei der Uraufführung beitrug. Das kann aber heute nicht mehr gelten. Denn inzwischen sind wir brutalere Werke, wie auch die viel zu oft gespielten Kriegssinfonien von Schostakowitsch gewohnt. Die Darstellung schrecklicher Ereignisse in Musik kann also kein Grund mehr dafür sein, warum der „Sacre“ ständig enttäuscht.

Viel eher scheinen sich Konzerthäuser und Orchester jedweder Qualitätsstufe am Ruhm dieses Werks bedienen und dadurch Zuhörer gewinnen zu wollen. Was man ihnen auch nicht verdenken kann. In erster Linie brauchen diese Einrichtungen ja finanzielle Einnahmen und der „Sacre“ ist durch seinen Ruf eine sichere Geldquelle.

Wenn darunter aber die Qualität der Aufführungen leidet, dann muss man sich fragen, was damit gewonnen wird, außer einer finanziellen Melkkuh, die bis zum letzten Tropfen ausgepresst werden soll. Denn einerseits tut man dem Publikum so keinen Gefallen. Andererseits fördert man dadurch den Verdruss an einem an und für sich tollen Werk, bis man es nicht mehr hören mag – so, wie ich inzwischen.

Der größte Verlust daran ist aber, dass andere Werke gleicher oder sogar besserer Qualität dadurch verdrängt werden. Werke, die ebenfalls ergreifend, aber womöglich leichter aufzuführen sind und damit ein erfüllenderes Erlebnis bieten würden. Warum ist z.B. Prokofjews Skythische Suite so unterrepräsentiert, obwohl ihr Inhalt ebenfalls archaische Bezüge hat und ihre Uraufführung einen vergleichbaren Skandal markierte? Oder Amy Beaches „Gaelische Sinfonie“, obwohl sie auch Bezüge zu längst vergessenen Kulturen verdeutlicht? Warum widmen wir uns vergleichbaren Werken nicht einmal ansatzweise so viel? Liegt es am Ende etwa nur wieder am Namen des Komponisten? Auch der vergessene Klassiker nächste Woche wird ein Beispiel dafür sein, wie wunderbare Stücke seit jeher vom „Sacre du printemps“ verdrängt werden…

Und das Tragischste ist: Der „Sacre“ ist nicht einmal ein schlechtes Stück, sondern eine herausragende Komposition eines ohnehin schon herausragenden Komponisten. Es wäre entsetzlich, wenn wir diesem Werk irgendwann überdrüssig würden, weil es zu oft zu schlecht und ohne Alternativen aufgeführt wird. Ist weniger also manchmal mehr? Wie auch bei anderen Beispielen von Mozart, Beethoven, Bruckner, Dvořák, Strauss etc. dürfte die Antwort wohl auch hier lauten: Manchmal ja!

Daniel Janz, 26. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.

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