Frau Lange hört zu (20): Zur Wahrheit gibt es keine Alternative

Frau Lange hört zu (20): Zur Wahrheit gibt es keine Alternative

Realität – was ist das? Im Netz findet sich für alles ein „Beweis“. Fürs Gegenteil auch. Verschwörungsgläubige erzählen immer irrere Geschichten. Autoritäre Politiker lügen hemmungslos. Ihren Anhängern ist es egal. Ich halte mich an George Orwell: „Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei plus zwei vier ist. Ist das sichergestellt, folgt alles weitere.“ Ein wütendes Plädoyer für die Wahrheit. Natürlich mit Musik.

von Gabriele Lange

O sacred oracles of truth,
O living spring of purest joy!
By day be ever in my mouth,
And all my nightly thoughts employ.
Whoe’er withhold attention due,
Neglect themselves, despising you.

Händel, Belshazzar (Iestyn Davies)

„Ich habe ein Recht auf meine Meinung!“ Na klar hast du die. Wir leben schließlich in einer Demokratie. Zur Überraschung vieler Meinungshaber schließt dieses Recht allerdings nicht den Anspruch ein, dass ihnen keiner widerspricht. Oder sie widerlegt. Wir leben schließlich in einer Demokratie. Noch. Autoritäres Denken, autoritäre, diktatorische Regimes sind weltweit auf dem Vormarsch. Vorangetrieben wird diese Entwicklung davon, dass „Truth“ – die Wahrheit – nicht mehr „sacred“ – heilig – ist. Sondern für immer mehr Menschen als etwas gilt, das man beliebig interpretieren und verbiegen kann wie einen Orakelspruch.

Ein Politiker wie Trump kann sich in fünf Minuten fünfmal selbst widersprechen – seine Anhänger sind inzwischen so flexibel wie die Einwohner von Ozeanien in Orwells 1984. Die konnten in Windeseile umschalten: Wir hatten immer Krieg mit Ostasien! … Ostasien ist unser Verbündeter. Wir waren immer im Krieg mit Eurasien!

„Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen.“

Hannah Arendt, Nach Auschwitz (1950)

In den sozialen Medien kann jeder verbreiten, was er will. Es blühen die Lügen. Viele können und wollen Realität und Erfindung, Kritik und Verleumdung nicht mehr unterscheiden. Als „Wahrheit“ akzeptiert und verbreitetet wird, was emotionale Bedürfnisse erfüllt – Angstbewältigung, Narzissmus… was auch immer. Versucht man, mit Menschen zu diskutieren, die an Märchen über Weltverschwörungen oder unfassbaren Quatsch zum Thema Pandemie glauben, steht man auf verlorenem Posten.

“To vouch this, is no proof”

(Behauptung ist kein Beweis)

Shakespeare, Othello

Sie haben nicht nur immer noch irgendeinen Videolink, einen selbsternannten Experten parat, sie fühlen sich sogar persönlich angegriffen, wenn man ihre Aussagen widerlegt. („Man erstickt also am eigenen CO2, weil es aus der Maske nicht rauskommt. Zugleich ist die Maske so undicht, dass alle viel größeren Virusmoleküle ungehindert rein- und rauskommen. Wie geht das zusammen?“ „Sie sind ekelerregend!“ „Der Typ, den Sie da zitieren, ist überhaupt kein Professor, sondern trägt einen selbsterfundenen Titel und verdient seine Kohle auf Esoterikmessen.“ „Gesinnungspolizei!“)

La calunnia / Die Verleumdung

„Und das zischelnde Geflüster
dehnt sich feindlich aus und düster,
und die Klugen und die Tröpfe
und die tausend hohlen Köpfe
macht sein Sausen voll und schwer …“

Der Barbier von Sevilla, Rossini (Ruggiero Raimondi)

Das Spiel mit Verwechslungen, Lügen, Betrug – als Stoff für die Komödie, die Operette, die Opera buffa ist das unverzichtbar. Am Schluss siegt das Gute, alle sind glücklich geläutert … Und dem Publikum wird spätestens jetzt bewusst, was gelogen und was richtig war.

Läuft es anders, haben wir es mit einer Tragödie zu tun.

„Credo che il giusto
è un istrion beffardo,
e nel viso e nel cuor,
che tutto è in lui bugiardo“

(Ich glaube, dass der Gerechte ein höhnischer Komödiant ist, im Antlitz wie im Herzen, dass alles an ihm Lüge ist)

Verdi, Otello, Iago: Credo in un Dio crudel (Ettore Bastianini)

Desdemona ist unschuldig. Jagos Lüge ist stärker als die Wahrheit. Denn sie passt zu gut zu dem, was der nur vermeintlich starke, aber innerlich unsichere Otello fürchtet. Dass ein unsichtbares Virus unser Geborgenheitsgefühl, unseren Wohlstand, unsere Gesundheit und unser Leben bedroht, können viele nicht ertragen – also wollen sie es nicht glauben. Masken, Hygienemaßnahmen machen ihnen unablässig bewusst, wie unsicher der Boden ist, auf dem wir gehen. Das wollen sie nicht akzeptieren.

„Your whole world changes
because everything I say is everything you’ve ever wanted to hear
so you drop all your defenses and you drop all your fears
and you trust me completely“

Henry Rollins, Liar

Bietet ihnen nun ein Jago eine andere „Realität“ an, erfüllt das ihre tiefsten Bedürfnisse. Natürlich brauchen diese Stories auch einen oder mehrere Sündenböcke. Also ist Bill Gates schuld an der Epidemie (die es zugleich gar nicht gibt), also haben sich Politiker wie Angela Merkel und Forscher wie Christian Drosten im Auftrag dunkler Mächte zusammengeschlossen, um uns alle zu belügen. Die klassische Brunnenvergifter-„Logik“. Die Pest geht um? Das Vieh ist krank? Das Haus brennt? Die Hexen sind schuld. Die Juden. Oder beide. Da ist es kein Wunder, dass auf den Demos und in den Social-Media-Blasen der Coronaleugner und Mythengläubigen auch der Antisemitismus grassiert.

“Believe in truth. To abandon facts is to abandon freedom. If nothing is true, then no one can criticize power, because there is no basis upon which to do so. If nothing is true, then all is spectacle. The biggest wallet pays for the most blinding lights.”

Timothy Snyder, On Tyranny

Der renommierte US-Historiker Snyder hat sich intensiv mit Nationalsozialismus und Stalinismus beschäftigt. Er warnt: Wer sich von den Fakten verabschiedet, verabschiedet sich von der Freiheit. Wenn es keine Wahrheit mehr gibt – wie soll man noch Machtmissbrauch bekämpfen? Wenn alles zum Spektakel wird, dann bestimmt derjenige, der das Geld und die Macht hat, was „wahr“ ist.

Aber, aber … jeder hat doch das Recht auf seine Meinung …? Na klar. Sie können Verdi zu bombastisch finden, Henry Rollins zu aggressiv, Masken nervig oder meine Kolumnen blöd. Das ist Ihr gutes Recht.

„Suche die Wahrheit, höre die Wahrheit, lerne die Wahrheit, liebe die Wahrheit, sprich die Wahrheit, bleib bei der Wahrheit, verteidige die Wahrheit bis zum Tod“.

Václav Havel

Wenn Sie aber eine Tatsachenbehauptung aufstellen – etwa dass Masken krank machen, Bill Gates uns alle chippen will, die unzähligen Toten in den USA oder Brasilien nichts als ein Riesen-Fake sind, Tausende Wissenschaftler und Journalisten sich weltweit zusammengetan haben, um uns Schlafschafen Märchen zu erzählen – dann bringen Sie gefälligst valide Beweise. Geht nicht? Wegen der Verschwörung? Seufz…

2 plus 2 ist NICHT 5.

Es ist schon faszinierend, dass Leute, die überzeugt sind, dass Wissenschaftler gewohnheitsmäßig lügen und nichts Besseres zu tun haben, als ihnen einen Bären über die Pandemie oder 5G aufzubinden, ein Handy benutzen, ins Flugzeug nach Berlin steigen, über eine Brücke fahren, deren Stabilität ein Statiker sichergestellt hat, sich einem Arzt anvertrauen, die verschriebenen Medikamente nehmen, sich in eine MRT-Röhre legen, auf den Erfolg einer Operation hoffen… (Na gut, manche von denen probieren es auch mit Heilpraktikern und „alternativer“ Medizin. Aber zur Sicherheit meistens nur „ergänzend“. Man will ja doch ganz gern am Leben bleiben…)

„Lies are truth and truth is fiction
Everybody’s talkin‘
Who’s gonna listen?“

March, March. The Chicks

Es ist schon faszinierend, dass Leute, die die wildesten Gerüchte zu glauben bereit sind, es gleichzeitig schaffen, einen Großteil ihrer wachen Zeit vernünftig zu wirken und im Job zu funktionieren. Wie geht das? Es geht genauso, wie es zum Beispiel vor 80 Jahren in Deutschland funktioniert hat. Da konnten viele, allzu viele ganz rational ihren Job machen, Anwalt sein, Arzt, Beamter, Mechaniker, sich im Alltag ordentlich benehmen, Beethoven genießen, sich sogar Goethes Faust im Theater ansehen – und zugleich die irrwitzigsten, menschenfeindlichen Propagandalügen glauben.

Die Folgen sind bekannt. Deshalb kann ich die Lügengläubigen eben nicht mit Humor nehmen. Dazu habe ich mich zu lange und zu intensiv damit beschäftigt, wie Propaganda funktioniert und was sie anrichtet. Timothy Snyder sagt es kurz und brutal:

„Post-truth is pre-fascism“.

Gabriele Lange, 18. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Frau Lange hört zu (19): Bildung verpflichtet. Zum Denken.

Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die Carmen führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr dagegen ein. Sie startete dann erst mal ein Geschichtsstudium. Die Magisterarbeit über soziale Leitbilder im Spielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu stören, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Als Textchefin in der Computerpresse erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets. Sie versuchte derweil, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die Computerpresse erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen später ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Lehrer-Kurs zum Thema Medienkompetenz. Aktuell schreibt sie auch über Themen wie Industrie 4.0 und Künstliche Intelligenz. Musikalisch mag sie sich ebenfalls nicht festlegen. Die Liebe zur Klassik ist über die Jahre gewachsen. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie (hoffentlich bald wieder) etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de .

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert