© Alfonso Batalla
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 17. April 2018
Ivo Pogorelich, Klavier
Wolfgang Amadeus Mozart
Fantasie c-moll K 475 (1785)
Ludwig van Beethoven
Sonate f-moll op. 57 «Appassionata» (1804-1805)
Frédéric Chopin
Ballade Nr. 3 As-Dur op. 47 (1840-1841)
Franz Liszt
Etude f-moll S 139/10 (Etudes d’exécution transcendante) (1851)
Wilde Jagd S 139/8 (Etudes d’exécution transcendante) (1851)
Feux Follets «Irrlichter» S 139/5 (Etudes d’exécution transcendante) (1851)
Maurice Ravel La Valse. Poème chorégraphique (Fassung für Klavier) (1919-1920)
von Jürgen Pathy
Ein Auftritt des legendären Ivo Pogorelich, 59, beginnt nicht erst zur offiziell angesetzten Uhrzeit, sondern bereits vierzig Minuten zuvor. Im Smalltalk mit Rico Gulda, dem Leiter des Künstlerbüros, kauert der Ausnahmekünstler in legerer Freizeitbekleidung auf der Bühne des Wiener Konzerthauses, inhaliert die Seele des im Jugendstil erbauten Großen Saales und versucht das „Tempo und den Puls des Ortes“ aufzusaugen, dem er seine Interpretationen immer anpasst.
Ein Interpretationsstil, dem seit jeher der Ruf des Manierismus vorauseilt – dessen sind sich die zahlreichen Verehrer des polarisierenden Ausnahmepianisten bewusst.
Folglich ist es keine große Überraschung, dass der charismatische Künstler mit einer eigenwilligen Mozart‘ schen Fantasie aufhorchen lässt. Fünfzehn Minuten verspätet, die erhabene Gestalt nun in einen klassischen Frack gehüllt, zelebriert er einen federleichten Mozart, der trotz der Moll-Tonart absolut nicht düster erscheinen will, sondern in einem lyrischen Legato-Kleid entspannt durch den Saal schwebt.
Ein Mozart, der sehr wenig mit dem des großen Mozartinterpreten Friedrich Gulda am Hut hat, eher noch mit dem des unorthodoxen Vladimir Horowitz: neben Pogorelich die einzigen seriösen Pianisten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Publikum zum Konzertkartenkauf animieren konnten, das nichts mit der Klassikszene am Hut hatte – nur um den Stellenwert des legendären Pianisten zu verdeutlichen, der durch einen Eklat beim renommierten Warschauer Chopin-Wettbewerb 1980 zum weltweiten Star avancierte.
Obwohl sein „wohlüberlegtes Konzept“ immer auf dem „Notentext und den Quellen“ basiere, konzipiert Pogorelich die dramatische Appassionata nicht wie eine crescendierende Apokalypse, sondern huldigt weiterhin einem lyrischen, kapriziösen Geist, der den Zuhörer dahinschmelzen lässt. Die Interpretation schimmert in der transzendentalen Weihe der letzten beiden Beethoven’ schen Klaviersonaten anstatt im apokalyptischen Sturm und Drang. Das gewaltige Donnerwetter entwickelt sich erst beim Presto des dritten Satzes – und entlädt sich zeitgleich mit einem frenetischen Applaus.
Nach der Pause verzaubert der feinfühlige Virtuose mit seiner meisterhaften Balladenkunst in As-Dur und honoriert den Namenspatron des für ihn so schicksalsträchtigen Warschauer Wettbewerbes.
Zum fulminanten Höhepunkt des Abends kristallisieren sich die folgenden drei Etüden des ungarischen Komponisten Franz Liszt, bei dessen Enkelschülerin – und 21 Jahre älteren verstorbenen Ehefrau – Aliza Kezeradze der junge Pogorelich seine pianistische Ausbildung verfeinern durfte. Wie von Dämonenhand geführt, schüttelt der Meister der romantischen Klavierliteratur die Oktaven und wilden Läufe der technisch enorm anspruchsvollen Stücke aus den Ärmeln. Es scheint, als wäre die Reinkarnation des Komponisten höchstpersönlich zur Erde herabgestiegen und hätte die Kontrolle übernommen. Verflogen sind die zu Beginn des Abends noch deutlich vernehmbaren Unsicherheiten.
Mit einer an Brillanz unüberbietbaren Meisterschaft verabschiedet sich der kroatische Tastenakrobat doch noch in einer trübseligen Endzeitstimmung: dem dissonanten, düsteren La valse von Maurice Ravel. Bei diesem gespenstischen Werk, in dem der französische Impressionist die erschütternden Eindrücke des Ersten Weltkrieges und den Tod seiner Mutter verarbeitet hat, schimmern nur gelegentlich luftig beschwingte Walzerklänge durch.
Einige Male lockt das jubelnde Publikum den ewig Suchenden zurück auf die Bühne – zu einer Zugabe lässt er sich jedoch nicht mehr hinreißen. Die universelle Message, der visionäre Flug des sich keinem Diktat unterwerfenden Rebellen hinterlässt aber auch einige verstörte Gesichter – die an der Grenze der Werktreue balancierenden Wiener Klassiker werden für geraume Zeit rastlos herumspuken.
Wer das unkonventionelle, farbenreiche Spiel des polarisierenden Genies im deutschsprachigen Raum live erleben möchte, dem sei der 10. Juni 2018 im Prinzregententheater (München) nahegelegt.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 18. April 2018, für
klassik-begeistert.at