Zwischen Schlafwandlern und Doppelgängern: Bellinis Sonnambula begeistert in Liège

La Sonnambula, Oper von Vincenzo Bellini  Opéra Royal de Wallonie, Liège, 22. Januar 2023  

Foto: Copyright Opéra Royal de Wallonie    

Am Ende eines denkwürdigen Opernabends erhoben sich alle Besucher des restlos ausverkauften Hauses zu einem furiosen Schlussapplaus. Beglückt von der umwerfenden Ensembleleistung und einem hinreißendem Orchester trat man als Zuschauer aus der umarmenden Wärme italienischen Belcantos zwischen Schlafwandlern und Doppelgängern zurück in die frostige Kälte Walloniens.

La Sonnambula
Oper von Vincenzo Bellini

Opéra Royal de Wallonie, Liège, 22. Januar 2023  

von Lukas Baake

Als mit der überragenden Jessica Pratt als träumerisch-sinnliche Amina das letzte Ensemblemitglied die Bühne betrat, erhob sich auch der letzte Besucher von seinem Platz. Mit frenetischen Beifallsbekundungen und lautstarken Bravi-Rufen wurde zurecht eine in musikalischer Hinsicht makellose Darbietung goutiert, die eine über weite Strecken geist- und einfallslose Inszenierung vor einer veritablen Bruchlandung bewahrte.

Die Oper in Liège steht bei vielen sicherlich nicht auf der Liste der europäischen Hochburgen des italienischen Belcanto. Als musikalische Assoziationen klingen beim Namen der wallonischen Stadt  mit André-Ernest-Modeste Grétry  und César Franck eher die Blütezeit der Opéra Comique und die französische Orgeltradition an. Doch bereits mit dem mit beherzt vorgetragenen Bläsertriolen anhebenden Vorspiel vergaß man als Besucher schnell Eis und Schnee des grauen Sonntagnachmittags. Stattdessen tauchten satte, warme Streicherklänge und die zarten Figuren der Holzbläser den Raum in eine alles-durchdringende Wärme.

Bewies das Orchester bereits nach dem ersten Takten, dass es der 1831 in Mailand uraufgeführten Oper gewachsen ist, wirkten Bühnenbild und Inszenierung auf den ersten Blick ernüchternd. Eine Gruppe von acht bis zehn Tänzern stand von nun einer mittig platzierten quadratischen Fläche und begleitete das musikalisch-dramatische Geschehen mit einer Mischung aus zeitgenössischem Tanz und Akrobatik. Dabei schien der dramaturgische Kniff des preisgekrönten Regisseurs Jaco Van Dormael – immerhin eine goldene Palme und ein César zählen zu seinen Auszeichnungen – darin zu bestehen, dass ausgewählte Tänzer die zentralen Protagonisten der Oper verkörpern, und die Choreographie auf eine vertikal angebrachte Leinwand projiziert wird.

Van Dormael selbst sprach im Vorfeld von  einer „résonnance chorégraphique, cinématographique et visuelles à la musique de Bellini“, in der Tanz und Bild als Echo auf die musikalische Interpretation zu verstehen seien. Theoretisch sicherlich eine gute Idee, mit der das zeittypische Motiv des Schlafwandelns elegant mit einem weiteren Faszinosum des künstlerischen 19. Jahrhunderts – dem Doppelgänger  – verbunden wird. Mit Heine im Kopf („Du Doppelgänger! du bleicher Geselle! Was äffst du nach mein Liebesleid“) gelangen der Inszenierung einige wenige treffende Bilder, deren Resonanzen auch über den Augenblick hinaus in Erinnerung blieben. Abgesehen von diesen wenigen geistreichen Momenten gelungenen Regietheaters blieb die Inszenierung weitestgehend ideenarm. Wo von Resonanz zwischen Tanz und Gesang die Rede war, stand ein Neben- und Gegeneinander des überragenden Ensembles und den überbordenden Choreographien.

Foto: Copyright Opéra Royal de Wallonie

Dieser Makel ermöglichte es jedoch alle Sinne auf das überragende Gesangsensemble zu richten. Souverän geführt von dem umsichtigen wie dynamischen Dirigats des Italieners Giampaolo Bisanti breitete das Orchester einen samtig-weichen Klangteppich aus, den die Sänger gekonnt zu nutzen verstanden. Dabei bewiesen die Orchestermusiker einmal mehr den großen Reifungsprozess, den sie, angeleitet von der Muti-Schülerin Speranza Scappucci, zwischen 2017 und 2021 gerade im italienischen Fach durchlaufen haben.

Den Auftakt machte Marina Monzó als Lisa, die bereits in der ersten Szene andeutete, welch hohes musikalische Niveau an diesem Abend zu erwarten war. Ob als eifersüchtige Liebhaberin oder intrigante Wirtin, avancierte die Spanierin dank ihres kristallklaren, sinnlichen Soprans schnell zu einem Publikumsliebling. Ebenbürtig war ihr Marko Mimica. Der flexible Bass-Bariton ist gesegnet mit einem warmen, kraftvollen Timbre, das der Rolle des virilen Conte Rodolfo die nötige Kühle und Gravitas gab. Zwischen diesen Ausnahmestimmen verblasste der leicht näselnde und überspannte Tenor von René Barbera. Auch wenn dee Sänger in wenigen Ensembleszenen zeigen konnte, zu welchen Höchstleistungen er im Stande ist, blieb sein Aufritt in musikalischer Hinsicht die einzige Schwachstelle.

Absoluter Höhepunkt blieb die Sopranistin Jessica Pratt als Amina, die sich ihrem schlafwandelnden Ich einem Doppelgänger gleich gegenüber gestellt sah. Die Rossini-Spezialistin wand sich mühelos durch die unzähligen technischen Finessen ihrer Rolle, spannte den Bogen zwischen kraftvollen Koloraturen und zerbrechlichen Melismen und sorgte regelmäßig für überschäumenden Szenenapplaus.

Foto: Copyright Opéra Royal de Wallonie

Am Ende eines denkwürdigen Opernabends erhoben sich alle Besucher des restlos ausverkauften Hauses zu einem furiosen Schlussapplaus. Beglückt von der umwerfenden Ensembleleistung und einem hinreißendem Orchester trat man als Zuschauer aus der umarmenden Wärme italienischen Belcantos zwischen Schlafwandlern und Doppelgängern zurück in die frostige Kälte Walloniens.

Lukas Baake, 24. Januar, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dirigent, Giampaolo Bisanti
Inszenierung, Jaco Van Dormael
Choreographie, Michèle Anne De Mey
Amina, Jessica Pratt
Elvino, René Barbera
Il Conte Rodolfo, Marko Mimica
Lisa, Marina Monzó
Teresa, Julie Bailly
Alessio, Ugo Rabec

La Monnaie Kammerorchester, Sir Antonio Pappano, Dirigent, Ian Bostridge, Tenor, La Monnaie, Brüssel, 19. Dezember 2022    

Belgisches Nationalorchester, Matthias Goerne und Michael Schønwandt Palais des Beaux-Art, Brüssel, 22. Oktober 2022    

Konzertabend, Mark Padmore, Mitsuko Uchida, Wigmore Hall, London, 15. Mai 2022

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