Alan Gilbert bringt die Elbphilharmonie Hamburg zum Leuchten

NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan Gilbert, Wagner, Mahler, Brahms,  Elbphilharmonie Hamburg

Foto: Thies Rätzke (c)
Elbphilharmonie Hamburg,
Großer Saal, 14. Oktober 2018
Richard Wagner, Vorspiel zu „Lohengrin“
Gustav Mahler,
Adagio (1. Satz) aus der Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur
Johannes Brahms,
Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98
NDR Elbphilharmonie Orchester
Alan Gilbert,
Dirigent

von Leonie Bünsch

Das „hellste Licht des blauen Himmelsäthers“ wollte Richard Wagner mit seinem Vorspiel zum 1. Aufzug seiner Oper „Lohengrin“ symbolisieren. An diesem Morgen in Hamburg spürt man dieses Licht deutlich: Am Himmel über dem Hafen und im Großen Saal der Elbphilharmonie.

Die Violinen des NDR Elbphilharmonie Orchesters versetzen die Zuhörer in einen sphärischen Klangraum. Es scheint, als würde die Sonne an diesem Morgen noch einmal aufgehen. Ganz zart spielen sie, man möchte die Luft anhalten. Wagner komponierte diese Ouvertüre nicht als schwungvollen, themenreichen Auftakt, der das kommende Handlungsgeschehen zusammenfasst, sondern als Klangraum, der die Zuhörer stimmungsvoll einstimmt. Das Stück ist ein einziges An- und Abschwellen in Instrumentation und Dynamik.

Das Orchester, unter der Leitung von seinem zukünftigen Chefdirigenten Alan Gilbert gibt diese Stimmung fantastisch wieder. Das gewaltige Crescendo reißt die Zuhörer mit, die gewaltige Klangvielfalt erfüllt den Saal und legt sich auf die Menschen wie warmer Sommerregen.

Nachdem sich das musikalische Geschehen wieder beruhigt und Gilbert das Orchester mit minimalen, fließenden Bewegungen zum Schlussakkord führt, ist es atemberaubend still im Saal. Die Sekunden verstreichen und man spürt: Das Publikum ist bereits verzaubert.

Der Kontrast zu Gustav Mahler könnte größer kaum sein. Als der Komponist sich an seine 10. Sinfonie machte, befand er sich in einer schweren Krise. Gerade hatte er auf schmerzhafte Weise erfahren, dass seine Frau Alma ihn betrogen hatte. Die Krise führte zu einem psychischen Zusammenbruch, gefolgt von einem physischen. Seine Sinfonie blieb unvollendet, lediglich der erste Satz war so weit instrumentiert, dass er heute ohne externe Eingriffe aufgeführt werden kann.

Der Schmerz Mahlers spiegelt sich in dieser Musik deutlich wieder. Das Adagio beginnt mit dem dumpfen Klang der Bratschen. Fast ohne Vibrato spielen sie und versetzen den Hörer sogleich in die düstere Stimmung des Komponisten. Man spürt den Schmerz, die Trauer, die Hilflosigkeit und die Wut. Bei dem sich aufbauenden Crescendo hört man beinahe, wie Mahler einem entgegen schreit: „O Gott! Warum hast du mich verlassen?“ Tatsächlich hat er diese Worte in das Manuskript seiner Partitur geschrieben.

Alan Gilbert arbeitet diese Emotionen durch kontrastreiches Spiel fantastisch heraus. Er hat keine Scheu, die Dissonanzen zu betonen, von den Streichern fordert er immer wieder gestisch mehr Intensität. Leider gibt es gerade in dieser Instrumentengruppe einige Unsauberkeiten. Es wirkt ganz so, als ob die Musiker noch nicht im Konzert angekommen seien und das Spiel mehr als Arbeit denn als Ausdruck empfinden.

Holz- und Blechbläser dagegen sind in Topform. Gerade der enorme Blechbläser-Apparat, der zwischenzeitlich die Töne einer Orgel simuliert und damit Mahlers Werk auch noch eine sakrale Ebene verleiht, trifft einen mit ungeheurer Wucht. Ernst Krenek sagte einst über dieses Adagio, dass gerade die Struktur und die Orchestrierung durch den expressiven Gehalt tief bewegend seien. Und auch wenn das NDR Elbphilharmonie Orchester noch nicht ganz auf seinem eigentlichen Niveau angekommen zu sein scheint, bewegt es die Zuhörer. Das ist deutlich zu spüren.

Nach der Pause steht Brahms auf dem Programm. Seine vierte und letzte Sinfonie gilt als monumentalste von allen und als gewaltiges Schlusswort in seinem sinfonischen Schaffen. Sowohl das Orchester als auch Gilbert, der jetzt ohne Noten dirigiert, scheinen sich nun deutlich sicherer zu fühlen als zuvor bei Mahler. Die Stimmen harmonieren viel besser zusammen, die Pizzicati im zweiten Satz sind exakt und auf den Punkt genau zusammen. Nun ist auch die Spielfreude deutlich zu erkennen, und es ist eine wahre Freude, den Musikern zuzuhören und zu sehen.

„Die Musik von Brahms ist so vielfältig. Es ist, als würde er eine ganze Geschichte erzählen!“, sagt später eine Konzertbesucherin. Wie recht sie hat! Brahms, der sich nie an die Gattung Oper herangetraut hat, scheint in seiner Sinfonie wirklich eine Geschichte zu erzählen. Zwar sind die musikalischen Themen für sich genommen gar nicht so interessant, doch wie er sie einbettet, variiert und weiter entwickelt, ist geradezu spektakulär.

Spätestens im dritten Satz zeigt das Orchester seine Extraklasse. Die Musik ist so mitreißend, dass es den heute sehr disziplinierten Zuhörern schwerfällt, nach dem Satz nicht zu applaudieren. Beim Schlussapplaus jedoch kann sich die Begeisterung entladen. Das Orchester wirkt erleichtert, Alan Gilbert berührt und dankbar. Er hat auf jeden Fall schon jetzt die Vorfreude auf die nächste Saison geweckt!

Leonie Bünsch, 14. Oktober 2018, für
klassik-begeistert.de

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