CD-Rezension:
Passacalle de la Follie
L’Arpeggiata
Philippe Jaroussky, Countertenor
Christina Pluhar, Laute und Leitung
Erato 5054197221873
von Dr. Regina Ströbl
Wer einmal die Musiker von L’Arpeggiata unter ihrer nimmermüden Leiterin Christina Pluhar gehört hat oder sogar live erleben konnte, wird sich fortan ihrer Art der Umsetzung der Musik vor allem des 18. Jahrhunderts kaum mehr entziehen können. Die Begeisterung der Ausführenden springt so unmittelbar auf den Hörer über, die Leichtigkeit und die Frische, gepaart mit viel Rhythmus, sind mitreißend. Bei einigen Stücken wünscht man sich, sie möchten einfach nicht aufhören.
Über die Jahre sind viele Alben unterschiedlichster Couleur zusammengekommen und die enorme Vielseitigkeit der Leiterin und ihres Ensembles zeigt sich in Programmen quer durch die Zeiten zwischen Monteverdi, barocker Musik der Mittelmeerregion, Passionsmusik, Tarantellen bis hin zu südamerikanischen Klängen. Dabei wurde vieles wiederentdeckt, „entstaubt“ (wie häufig beschrieben), neu arrangiert und zusammengestellt. Ein langjähriger Mitstreiter und häufiger Gast ist der Countertenor Philippe Jaroussky, mit dem sie nun galante französische Hofmusik des 17. Jahrhunderts aufgenommen hat.
Zu Gehör gebracht werden 16 Stücke von heute kaum noch bekannten französischen Komponisten wie Étienne Moulinié, Antoine Boësset oder Gabriel Bataille. Darunter befinden sich vier reine Instrumentalstücke im typischen Pluhar-Sound, die den Musikern von L’Arpeggiata die Möglichkeit eröffnen, auch solistisch zu brillieren. Jeder von ihnen verdient es, genannt zu werden, stellen sie doch ihr großes Können stets in den Dienst des Werkes und des Ensembles: Doron Sherwin (Zink), Jesús Merino Ruiz (Theorbe und Barockgitarre), Flora Papadopoulos (Barockharfe), Rodney Prada (Viola da gamba) und David Mayoral (Perkussion).
Die 12 Lieder, überwiegend auf französisch, in Ausnahmen aber auch auf spanisch geschrieben und gesungen, zeigen eine große emotionale Bandbreite von heiter über traurig-melancholisch bis ironisch, mit allen Facetten, die das Thema Liebe und Eifersucht eben aufbietet. Die Abfolge der einzelnen Nummern ist sehr ausgewogen. Es beginnt mit dem leichten, heiteren „Aux plaisirs, aux délices, bergères“ von Pierre Guédron, dessen Refrain die Aufforderung enthält: „Nutzt die schönen Tage eurer Jugend für die Liebe, die Freude in den Hainen“. Ebenso heiter wie tänzerisch geht es weiter mit Antoine Boëssets „À la fin de cette bergère“, der Verführung einer Schäferin, die sich nach langer Werbung überzeugen ließ, „… und die Liebe, die nur in ihren Augen war, ist nun in ihrem Herzen. Wir leben unter dem gleichen Gesetz, denn nun ist sie mein“.
Es folgen einige traurige, ja wütende Gesänge, z. B. „Non speri pietà“ von Michel Lambert, ebenso melancholische wie Étienne Mouliniés „Paisible et ténébreuse nuit“. Gebrochen wird dies immer wieder durch kurze und sehr muntere Einwürfe wie die titelgebende Passacalle La Follie, „Yo soy la locura“, von Henry de Bailly oder Gabriel Batailles „El baxel está en la playa“. Es wird geküsst, gelacht, geliebt, gelitten, gejammert. Zart klingt das Programm mit Étienne Mouliniés „Enfin la beauté que j’adore“ aus, in dem es heißt „Nun, da ich die Schönheit wiedersehe, die mich entflammt, verschwinde mein Kummer, weiche aus meinem Herzen!“ Und dann sind 16 beglückende Titel vorbei – nicht genug, denkt man sich, mehr davon, viel mehr!
Das liegt nicht nur an der schönen und großartig dargebotenen Musik und an den von Daniela Wiesendanger luftig und zauberhaft übersetzten Texten (das Mitlesen sei hier ausdrücklich empfohlen!), sondern natürlich am Gaststar Philippe Jaroussky. Seine klare, reine, nahezu vibratolose Stimme spiegelt die ganze Bandbreite aller Emotionen überzeugend wieder. Mit betörenden Tönen verzaubert er gerade in den traurigen, zarten, melancholischen Stücken, begeistert aber auch in den heiteren und schnellen Passagen. Gelegentlich klingt die Stimme in den Mittellagen etwas kehlig, was aber den Genuss, seiner Interpretation zuzuhören, nicht trübt. Man hört und spürt die langjährige Vertrautheit und das absolute Einvernehmen von Sänger und Ensemble, es ist ein gleichberechtigtes Miteinander von acht hochintelligenten und ausgezeichneten Solisten.
Das dreisprachige Booklet behandelt knapp, aber sehr informativ die musikalische Gattung und den zeitlichen Kontext ihrer Entstehung, national wie international. Auch über die Komponisten gibt es einiges zu erfahren, dazu die Liedtexte in drei bzw. vier Sprachen. Die Buchstaben hätten im Druckbild allerdings gern etwas größer sein dürfen.
Man mag sich wundern, wie so heitere, leichte Musik voller Liebesflüstereien und erotischer Anspielungen in einer so dunklen Zeit voller Kriege, an denen auch Frankreich erheblich beteiligt war, entstehen konnte. Weitab vom grausamen Geschehen auf den Schlachtfeldern vergnügte sich der Adel am Hofe, lenkte sich mit heiteren Schäferspielen und galanter Musik vom Kriegselend ab. Verrückt, denkt man, comme c’est fou! Unmöglich, man kann sich doch nicht so amüsieren, während gleichzeitig grausam geplündert, gemordet und gestorben wird. Ach, wirklich? Benehmen wir uns heute, ganz unadelig, nicht auch so? Und tut es nicht gut, mal abzuschalten, sich vom Weltirrsinn ablenken zu lassen und einfach mal schöne Musik in so fabelhafter Ausführung zu genießen? „Wir leben…“
Dr. Regina Ströbl, 27. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Philippe Jaroussky und Le Concert de la Loge Konzerthaus Berlin, 8. November 2021