Elbphilharmonie Hamburg: Wie man Kultur nachhaltig schädigt

Elbphilharmonie Hamburg, Publikum, Entgleisungen, Peinlichkeiten  27. Juni 2022

Ein Beitrag zur fortdauernden Verzweiflung über das Publikum im von den Baukosten her teuersten Konzerthaus der Welt

Foto: Elbphilharmonie, Hamburg © Maxim Schulz

von Dr. Andreas Ströbl, 27. Juni 2022

Um es gleich vorweg zu sagen: Hier geht es nicht um die pauschalisierte Publikumsbeschimpfung einer arroganten, elitären Gruppe von Musikjournalisten. Aber mittlerweile hat man auf der langen Rolltreppe zum Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie schon Angst, was einen erwartet, wenn man hinter sich Fragen hört wie: „Du, Mama, Oper und Orchester ist doch ein Unterschied, oder?“ Dies kam nicht von einem fünfjährigen Kind, sondern von einem jungen Mann, der mindestens 25 Jahre alt war.

Es ist auch nicht mal Böswilligkeit, die einem Teil des Publikums unterstellt wird. Die schlichte Unkenntnis darüber, wie man der hochkarätigen Musik begegnet, die in einem der wichtigsten Konzertsäle der Welt von erstklassigen Musikerinnen und Musikern sowie Dirigenten von Weltrang geboten wird, führt zu einer Schädigung des Kulturbetriebs. Die Leute wissen es eben nicht besser und jemand muss sie entsprechend an die Hand nehmen, damit sie den Unterschied zwischen einem Pop- und einem Klassikkonzert verstehen.

Das Fernsehen hat da offenbar einen großen Einfluss und die Menschen meinen, dass man jede Äußerung, jeden Kommentar, jedes Musikstück unmittelbar mit Beifall quittieren muss, weil es in jeder Show genauso abläuft. Aber so werden Liederzyklen oder Symphonien zu bloßen Nummernlieferungen, deren inneres Gefüge und Spannung zerstört werden und die in ihrem Aufbau so nicht mehr funktionieren.

Beim Saisonabschluss-Konzert am 25. Juni 2022 zerklatschte ein Großteil des Publikums das feinnervige dritte Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch, der in diesem, wie in vielen seiner Werke, Angst, Schmerz und Verzweiflung thematisierte. Zurück blieb der Scherbenhaufen eines hochsensiblen Werks, dargeboten vom großartigen Noah Quartett, dessen Mitglieder Mühe hatten, nach dem Lärm – als Beifall lässt sich das nicht bezeichnen – wieder zurück in die Innigkeit zu finden. Zum Klatschen in die Musik hinein nach einer gelungenen Solodarbietung ist es da nur noch ein kleiner Schritt.

Wäre es denn wirklich so schwer umsetzbar, die Lautsprecher-Ansage vor dem Konzert zu erweitern (gerne etwas lauter) und den Hinweis zu integrieren, BITTE nicht zwischen Sätzen oder Liedern zu klatschen? Oder es könnten die sympathischen Saaldienerinnen und -diener sich in solchen Momenten kurz von ihren Plätzen an den Ausgängen erheben und ein Handzeichen machen.

In der Pause ergab sich das Gespräch mit einem aus den USA angereisten Ehepaar, dessen verwunderte Bemerkung „Strange way of perceiving culture. Don’t the Germans know the word respect?” all das in Kürze wiedergibt. Generalisierungen sind selbstverständlich zu meiden und umso angenehmer war die Wahrnehmung bereits am Folgetag, als zumindest bei Schostakowitsch’ 9. Symphonie zwischen den Sätzen völlige Ruhe herrschte. Aber dann gab es wieder mal das Handy, das in den letzten zarten Ton von Zemlinskys „Seejungfrau“ im zweiten Teil hineinbimmelte. Ist es wirklich so schwer, die Dinger stummzustellen? Irgendeiner von diesen Höllenapparaten klingelt jedesmal.

Zurück zum Vorabend. Während der gewaltigen Alpensymphonie von Richard Strauss gingen während der Musik heraus: 1. Ein Mann mit einer Art von Unterhose und T-Shirt, 2. Eine Mutter mit ihrem etwa 4-jährigen Sohn, der wie die anderen Kinder im Vorschulalter an diesem Konzert nicht das geringste Interesse hatte und alle Umsitzenden durch Zappelei und Quasseln nervte, 3. zwei ältere Damen unter lautem Fallenlassen von Stock und Programmheft.

Ja, viele Touristen wollen auch mal in der „Elphi“ gewesen sein. Dazu genügt dann aber auch der Besuch der Plaza oder eine Führung durch das Gebäude. Ich wollte in Istanbul auch mal in der Blauen Moschee gewesen sein, hielt mich aber an die gegebenen Vorschriften, zog die Schuhe aus, photographierte nicht und verhielt mich leise.

Apropos leise: das Husten. Vor den Garderoben stehen große Behälter mit Hustenbonbons, wo man sich kostenlos bedienen kann. Auswickeln kann man die ganz prima vor dem Beginn des Konzerts oder eben zwischen den Sätzen, nicht aber in den Pianissimo-Stellen während der Musik. Auch kann man sich Husten fast immer verkneifen und was da in so einem Konzert weggehustet wird, wirft die Frage auf, ob jedesmal das Lungensanatorium zu einem Ausflug geladen hat.

Und dann das Quasseln. Welcher Text kann so wichtig sein, dass er in die Musik hineingesprochen wird und alle Umsitzenden enerviert? Hat sowas nicht Zeit bis nach dem Konzert? Wozu gehen diese Leute in eine solche Veranstaltung und verderben sie denen, die sich ganz dem Hören widmen wollen und mitunter viel Geld dafür bezahlt haben?

All das geht vielen Leuten auf die Nerven, zahlreichen Bewunderern großartiger Musik und auch den freundlichen Saaldienerinnen und Saaldienern, die immer darauf hinweisen, Jacken und Mäntel nicht auf die Balustraden oder auf das Podium zu werfen, sondern bitte bei sich zu behalten, wenn man schon so geizig ist und die Garderobengebühr von 2 Euro nicht berappen will.

Ist es denn zuviel verlangt, angemessen gekleidet zu einem Konzertabend zu erscheinen? Daniel Hope hat in seinem Wegweiser für Konzertgänger „Wann darf ich klatschen“ deutlich darauf hingewiesen, dass das Orchester und dessen Leitung es sehr genau wahrnehmen, ob die Besucherinnen und Besucher mit entsprechender Kleidung der Musik und den Ausführenden Respekt zollen oder das mehr oder weniger bewusst eben nicht tun.

Wie eingangs bemerkt: Selbstgefälligkeit und Elitarismus sind nicht die Antriebskräfte hinter all der Kritik. Aber es ist sicher der falsche Ansatz, jede Rüpelei zu tolerieren, unter dem Vorwand, dass es doch schön sei, wenn auch Leute solch eine Veranstaltung besuchen, die sonst nichts mit klassischer Musik zu tun haben und sich halt so benehmen, wie sie es vom Campingplatz gewohnt sind.

In „Klassik begeistert“ wird immer wieder deutlich gemacht, dass es an der Leitung des Hauses liegt, die basalen Verhaltensweisen einzufordern, die dieser Kulturstätte angemessen sind.

Sonst hat man hinterher zwar Kultur, aber wenig Zivilisation.

Dr. Andreas Ströbl, 27. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Anmerkung des Herausgebers: Dr. Andreas Ströbl beschreibt wirklich sehr höflich und schön, wie es seit fünf Jahren in der von Hamburger Steuerzahlern finanzierten Elbphilharmonie zugeht. An diesem Montagabend, beim zweiten wirklich wunderbaren Konzertes des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg, ging es überwiegend recht gesittet zu. Aber dann sind da auch immer wieder Menschen – fast immer nur Frauen –, die die ganze Zeit – pourquoi ? – auf dem Handy tippen – auch hinter der Bühne, so dass der Dirigent dies sehen kann.

Und dazu junge Menschen im Dauergequatschemodus – sicher hätte die große, musikgenießende Mehrheit brennend interessiert, was die Klassikbanausen zu diskutieren hatten.

Deutschsprachige Verhaltensanweisungen der Elphi werden nur peripher und falsch ins Englische übersetzt. Es fehlen einfach einfache, klare Ansagen – am besten durch Menschen: „Genießen Sie die Musik und verhalten Sie sich so, wie Ihre Nachbarn dies wünschen. Wir bitten um ABSOLUTE Ruhe.“

Im Herbst drohen uns dann ja wieder die hunderten Jacken der Spacken, die – erlaubt durch die Elphi-Chefs !!! – ihre nassen, voluminösen, hässlichen Überwürfe im – heiligen – Großen Saal der Elbphilharmonie mitnehmen. Ein undenkbarer Vorgang in allen Konzert- und Opernhäusern der Welt. Wir reden von 2 Euro pro Klamotte. Eine Schande für Hamburg.

Die Elphimacher denken halt: Jo, lass mal alle reinkommen, und wenn die Minorität die große Majorität nervt, ist uns das schnuppe. Wir von klassik-begeistert.de nennen das schon seit Jahren einen pseudodemokratischen Kotau zugunsten der Unwissenden und zu Lasten von Wissenden.

Haben die Elphilenker Angst, über den wunderbaren, ausfahrbaren Deckenlautsprecher laut und deutlich zu verkünden, was 95 Prozent der Menschen im Großen Saal sich dringlichst wünschen: „Verhalten Sie sich bitte absolut ruhig bis zum Ende des Konzerts“?

Göttliche Musik braucht Ruhe. Und diese Ruhe hat JEDER zu befolgen.

JEDER!!!

… sonst soll er/sie/es Netflix schauen oder zum HSV gehen.

Ich persönlich kenne kein Konzerthaus in Europa, in dem es so schlimm zugeht wie in der Elphi. Mittlerweile machen manche Besuche keinen Spaß mehr.

Seit wann oktroyiert die Minderheit der Mehrheit die Spielregeln? Und dazu noch vollkommen dumme, basse, tumbe?

Andreas Schmidt, 27. Juni 2022

Erschütternd und um die Welt gegangen ist dieser Beitrag von
klassik-begeistert.de-Autor Patrik Klein:

Rotterdams Philharmonisch Orkest, Yannick Nézet-Séguin, Elbphilharmonie, 27. April 2022

Bravo! Elbphilharmonie-Chef sorgt endlich für Ruhe und Ordnung in seinem Haus, Elbphilharmonie Hamburg, 31. März 2019

Elbphilharmonie Hamburg, Die Jacken der Spacken klassik-begeistert.de, 16. Januar 2022

 

 

7 Gedanken zu „Elbphilharmonie Hamburg, Publikum, Entgleisungen, Peinlichkeiten
27. Juni 2022“

  1. Diese Teile des Publikums in der ElbPhi offenbaren, dass es in Deutschland keinen gemeinsamen musikkulturellen Nenner (mehr) gibt.
    Kein Wunder in einem Land, in dem musikalische Bildung in Form von Instrumentalunterricht immer noch nicht als Bildung und somit als öffentliche Aufgabe anerkannt ist. Hierzulande müssen die Eltern dafür finanziell aufkommen, ein Instrument zu lernen ist eben so etwas, wie Tennis und Reiten.
    Kein Wunder in einem Land, in dem schulischer Musikunterricht fast keines seiner hochgesteckten Ziele erreicht und musikalische Schulaufführungen sich meist auf Schulbands und Musicals o.ä. reduzieren.
    Als inzwischen Gestriger des Jahrgangs 1950 danke ich meinem Musiklehrer Eberhard Riedesel an unserem Gymnasium, dass er mit seiner Musik-AG Konzertbesuche vorbereitet und durchgeführt hat. Das waren tolle Erlebnisse!
    Von Nix kommt halt Nix.

    Prof. Karl Rathgeber

    1. Lieber, werter Professor Rathgeber,

      Sie haben es auf den Punkt gebracht: von NIX kommt NIX.

      Musik heilt.

      Musik ist Seele.

      Music was my first love.

      Herzlich Ihr

      Andreas Schmidt

  2. Ein Satz hat mich dann doch bestürzt:

    „Aber dann sind da auch immer wieder Menschen – fast immer nur Frauen –, die die ganze Zeit – pourquoi ? – auf dem Handy tippen – auch hinter der Bühne, so dass der Dirigent dies sehen kann.“

    Ob Sünderin oder Sünder: Fehlverhalten bleibt Fehlverhalten. Dabei ist das Geschlecht vollkommen wurscht. Im Übrigen decken sich meine Beobachtungen überhaupt nicht mit denen des Herausgebers: In Dortmund beispielsweise irritierte ein MANN vor Jahren seine Umgebung, indem er eine komplette Fünfte von Mahler mit seinem Endgerät zubrachte. (Oder er las die Partitur mit, aber das würde es auch nicht besser machen.) Weitere Beispiele auch männlichen Fehlverhaltens sind Legion.

    1. Lieber Brian,

      DU hast recht. Von meinem HH-Blick sind es halt meistens Damen, die in der Elphi auf dem
      Handy rumfummeln. Aber ist das repräsentativ?

      Ich danke Dir für Deinen Hinweis,

      herzlich in den Süden

      Andreas

  3. Wie wäre es, wenn die Autoren vor jedem Konzert, vielleicht besser schon vor dem Haus, verpflichtend für alle Besucher:innen entsprechende Schulungen anböten? Dann wären die Autoren endlich ausgelastet und derartige Schimpftiraden blieben uns erspart.

    No name

    nur: abc

    1. Liebe abc,

      warum verstecken Sie sich hinter Buchstaben?

      Haben Sie, wenn Sie in einem Konzertsaal sind, Lust Gespräche, Geräusche, Gerotze und Handyklingeln zu hören?

      Wir bei klassik-begeistert bleiben sinnlich und analytisch dabei, über die Verdummungen und Verunglimpfungen in Konzertsälen zu berichten.

      Wir lassen uns die göttliche Musik nicht nehmen von Banausen.

      Herzlich

      Andreas Schmidt,
      Herausgeber

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