Foto: Anna Handler und Erich Domenech beim Konzert „Musikalische Urwesen – eine Schöpfungsgeschichte“ am 12. August 2022, Foto: Werner Schubert
Festival junger Künstler Bayreuth 2022:
Generalthema „Reflexion. Transformation. Kreation.“
Bayreuth Juli und August 2022
„Man braucht die Augen, um zu hören“ – die Autorin dieses Mottos ist die unseren Lesern bereits bekannte Dirigentin und Pianistin Anna Handler, die dieses Jahr wieder an dem Festival junger Künstler Bayreuth teilgenommen hat. Der weitere Teil davon basierte auf drei Schlüsselwörtern: „Reflexion, Transformation, Kreation“ und betraf die jetzige Situation der Kunst.
von Jolanta Łada-Zielke
Während der Coronavirus-Pandemie war unsere Welt mehr oder weniger auf den Kopf gestellt. Warum also nicht damit beginnen, die Menschen neu auf den Musikempfang vorzubereiten, indem man die Reihenfolge umkehrt, und ihnen erst Sehen und dann Hören beibringt? Das sind die Annahmen des Projekts, das Musik mit Visualisierung verbindet, wobei die Musik wichtige Inhalte vermittelt. Anna Handler sei der „Spiritus Rektor“ des Projekts, wie Frau Dr. h.c. Sissy Thammer, die Intendantin des Festivals, festhält.
Die 26-jährige Dirigentin ist auf diese Idee vor einem Jahr gekommen und hat zusammen mit dem jungen deutsch-französischen Komponisten Eric Domenech angefangen, sie umzusetzen. Erics Aufgabe war es, ein Stück zu komponieren, das den Vorgaben des Konzerts „Musikalische Urwesen – eine Schöpfungsgeschichte“ entspricht. So entstand das Orchesterwerk „Genesis“. Seine Instrumentierung ist traditionell, ebenso wie beim Klavierkonzert Nr. 1 von Frédéric Chopin, das sich im Programm des zweiten Teils des Abends befand.
„An der Visualisierung habe ich mit Lucas Gutierrez zusammengearbeitet“, so Domenech. „Lucas ist ein Artist aus Argentinien, der jetzt in Berlin lebt. Er hat schon 2018 eine Visualisierung zu meinem Stück für 23 Solostreicher vorbereitet. Anna und ich, wir haben ihm unser Konzept vorgestellt, und so ist die Visualisierung zu »Genesis« entstanden“.
Das Wort „Visualisierung“ assoziiert man am häufigsten mit einem Video, das im Hintergrund eines spielenden Orchesters läuft. In diesem Fall ist es jedoch mehr als das. „Das visualisierte Bild entsteht, während die Musik spielt, es generiert sich aus der Musik durch eine physikalische Simulation“, erklärt Erich Domenech. „Das sieht jedes Mal anders aus, durch das Tageslicht sind diese Bilder nie genau gleich. Wir haben versucht, die in der Musik befindlichen Phänomene und ihre Urwesen oder Zutaten, wie Rhythmus, Harmonie, Affekt separat zu zeigen. Wir machen das dreidimensional und das Bild bewegt sich in der echten Zeit. Selbst wenn die Musik pausiert, bleiben wir trotzdem in Bewegung“.
„Genesis“ knüpft an das Oratorium „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn an, von dem „Die Vorstellung des Chaos“am Anfang des Konzerts erklang. Eric Domenech hat die Aufführungspraxis dieses Fragments mit seinem Kollegen Philipp Schmidt etwas geändert. „Wir haben die Passagen von Haydn umgeschrieben, um zu zeigen, wie er komponierte. Die Affekte der ersten neun Takte der »Schöpfung« haben wir komplett umgedreht. Das heißt, alles was vom Affekt selbstbewusst ist, haben wir leise und schüchtern gemacht. Erst erzähle ich, wie die Zeit entsteht – der Rhythmus ist geboren, es entsteht die erste Tonhöhe und die Intervalle tauchen auf. Dann wie Raum entsteht und dann als Letztes eine Gestalt, die sich erst bewegen kann, wenn Zeit und Raum bereits existieren. Mit der Gestalt beginnt die freie Verarbeitung des Themas mit meiner Kompositionssprache“.
Ich besuche Anna Handler im Barocksaal des Wilhelmine-Gymnasiums in Bayreuth, wo sie mit ihrem Orchester Enigma Classica probt. „Wir haben an diesem Programm sehr intensiv gearbeitet“, erzählt sie. „Jedes Stück war uns eine Perle, die wir sorgfältig poliert haben. Das Projekt »Musikalische Urwesen – eine Schöpfungsgeschichte« hängt mit der allgemeinen Idee von Enigma Classica zusammen, also mit der Dekodierung einzelner Elemente, aus denen die Musik besteht; wie ein Gericht aus verschiedenen Zutaten. Es ist interessant, wie diese drei Elemente der Musik aus dem ursprünglichen Chaos durch Visualisierung hervorgehen. Natürlich gibt es verschiedene Meinungen zu Visualisierung; Manche sagen, sie lenkt vom Hören ab. Wir haben aber nicht irgendwelche konkrete Bilder, sondern bestimmte musikalische Phänomene visuell dargestellt, auf die wir die Aufmerksamkeit des Publikums lenken wollen“.
Eric Domenech hat eine klare Vorstellung davon, wie die Aufführung seines Stückes auf das Publikum wirken soll: „Unser Ziel ist die Sinnesschulung. Man kann die Musik durch theoretische Erklärung oder Analyse lehren. Wir machen das durch die Visualisierung. Jeder, der sehen kann, ist in der Lage etwas anzufangen damit, was wir machen, das heißt durch das Sehen das Hören trainieren. Im zweiten Teil des Konzerts hört das Publikum bereits mit „anderen Ohren“, weil wir es früher für eine besondere Art der Rezeption sensibilisiert haben. Wir leben in einer visuellen Zeit und sind eher auf visuelle Verarbeitung fokussiert. Unsere Augen sind durch die Social Media anders als unsere Ohren beansprucht. Also hoffen wir, dass wir den Zuschauern durch unser Projekt aktives Hören beibringen“.
Anna Handler dirigiert das Konzert von Chopin und spielt dazu gleichzeitig als Solistin am Klavier. Dies ist das letzte Stück des Konzertabends am 12. August 2022, auf das man das Publikum durch Visualisierungen vorbereitet hat. „Mit der Musikvermittlung pflanzen wir einen Samen für die nächsten Generationen“, sagt Anna voller Hoffnung. „Dies macht mehr Eindruck, wenn junge Menschen für andere junge Menschen das verkörpern und darstellen, als wenn zwanzig Jahre Altersunterschied dazwischen sind“.
„Die Empfänger dieser neuen Gedanken sollen nicht nur die Jungen, sondern auch die Älteren sein“, fügt Dr. Sissy Thammer hinzu. „Dank dieses Projekts habe selbst ich gelernt, dass die Musikvermittlung, nicht mehr wie vor vielen Jahren nur „Audience Development“, sondern auch die Sache der Zukunft ist. Ich glaube, dass das, was Anna mit Enigma Classica macht, die Zukunftsaufgabe unseres Festivals ist: das Ausprobieren des Neuen und die Musikvermittlung. Man verlangt von uns Kulturmanager, die Nachhaltigkeit der Ästhetik und der Kunst zu schaffen. Dieses Thema hat man aber noch nie genau erforscht“.
Das Schönste an diesem Festival ist der gegenseitige Austausch. Es stellt sich heraus, dass die Älteren auch etwas von den Jungen lernen können. Die ältesten Wagnerianer bei den Bayreuther Festspielen beschweren sich über die Regisseure, die zu viel moderne Technologie verwenden, wodurch sie die Rezeption der Werke des Komponisten schwierig machen. Auf dem Festival junger Künstler Bayreuth haben wir kreative Jugend, die moderne Technologien auf eine Weise nutzt, die die Musik zugänglicher macht. Hier hängen die Musikvermittlung und die Nachhaltigkeit der Kunst praktisch zusammen.
Der Deutsch-Französische Komponist Eric Domenech (*1991) studierte instrumentale Komposition und Klavier zunächst an der Musikakademie Louis Spohr in Kassel, weiterführend Komposition bei Manfred Trojahn an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf, bei Michael Obst und Reinhard Wolschina an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar. Dort schloss er 2022 einen Master of Music in den Fächern Musiktheorie bei Jörn Arnecke und Kammermusik bei Larissa Kondratjewa und Christian Wilm Müller als Pianist ab. Außerdem studierte er am Conservatoire National Supérieur de Danse et Musique in Lyon bei David Chappuis Composition / Écriture, mit Luca Antignani Orchestration und bei der Pianistin Dana Ciocarlie Kammermusik.
Seine mehrfach ausgezeichneten symphonischen Werke interpretierten bereits DirigentInnen wie Anna Handler, Vitali Alekseenok, Martijn Dendievel oder Niklas Hoffmann mit Orchestern wie der Thüringen-Philharmonie Gotha-Eisenach, in Zusammenarbeit mit der Jungen Norddeutschen Philharmonie oder vom Ensemble-Momentum. Seine Kammermusik spielten das Vision-String-Quartet, das Sonoro-Quartet oder das Amsterdam-Wind-Quintet ein. 2019 war er im Rahmen der Beethoven-Festspiele „Composer in Residence“ im Beethoven-Haus Bonn bei der Komponistin Charlotte Seither. Eric ist Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes, der Guthörle-Stiftung sowie Preisträger des Deutschland-Stipendiums.
Jolanta Łada-Zielke, 25. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Mirella Hagen, Robin Engelen, Festival junger Künstler Bayreuth, Steingraeberhaus, 2. August 2020
Interview, Anna Handler, „Musik mache ich mit Menschen und für Menschen“, Teil 1