Die Gesangsleistungen in der Hamburgischen Staatsoper haben ihren Spitzenplatz unter den großen Häusern wieder zurückgewonnen, das zeigt sich auch an derzeitigen Serie von Hoffmanns Erzählungen, Aufführung vom 7. Juni 2023

Jacques Offenbach, Les Contes d’Hoffmann, Opéra fantastique in 5 Akten Staatsoper Hamburg, 6. Juni 2023

Jana Kurucová (La Muse, Nicklausse), Erwin Schrott (Lindorf, Coppelius, Dr. Miracle, Dapertutto), Matthew Polenzani (Hoffmann), Pretty Yende (Stella, Olympia, Antonia, Giulietta) (Foto RW)

Von den von mir in der jetzt abgeschlossenen Opernsaison gehörten 20 Aufführungen erreichten 7 den Spitzenwert einer internen Bewertung von 10/10 Punkten, im Mittel der 20 Aufführungen wurden 8,5 Punkte erreicht. Das liegt nur noch knapp unter den während der Intendanzen Everding, Dohnányi und Liebermann erreichten Werten. Zu den herausragenden Aufführungen zählt auch die aktuelle Hoffmann-Serie.

Staatsoper Hamburg, 6. Juni 2023

Les Contes d’Hoffmann
Opéra fantastique in 5 Akten (1881)

Musik: Jacques Offenbach
Inszenierung: Daniele Finzi Pasca

von Dr. Ralf Wegner

Nachdem die erste Serie dieser im September 2021 premierten Fassung mit Benjamin Bernheim als Hoffmann und Olga Peretyatko in den vier Frauenpartien hochkarätig besetzt war, übernahm jetzt Pretty Yende die Sopranrollen. Sie legte, wenn man das so sagen darf, noch eine Schippe drauf. Aber nicht nur sie, sondern das ganze Quartett aus Yende, Polenzani, Schrott und Kurucová gehörte zum besten, was ich bisher in dieser Oper auf der Bühne gesehen habe.
Erwin Schrott sprach ich bei der letzten von mir gesehenen Aufführung von Rossinis Türken in Italien die ehemals vorhandene Stimmschönheit ab. Jetzt in den Rollen des Lindorf, Coppelius, Dr. Miracle und Dapertutto war er schlicht großartig, nicht nur mit seiner differenzierten Darstellung der Partien, sondern vor allem auch gesangstechnisch mit einem voll anspringenden Bassbariton mit außerordentlicher, zur Interpretation genutzter Tonmodulation. Während ich bei seinem Vorgänger Luca Pisaroni noch schrieb, seine Stimme nicht beurteilen zu können, da die Aufführung auf die wunderschöne Spiegelarie verzichtete (unübertroffen Lawrence Winters, allerdings mehr als fünf Jahrzehnte her), gelang Schrott mit seiner gestern (wieder) zu Glanz fähigen, ungemein strahlkräftigen Stimme eine mustergültige interpretatorische Leistung. Der Rezensent Dr. Andreas Ströbl fasste Schrotts Bühnenpräsenz in diesem Blog am 30. Mai zutreffend wie folgt zusammen: Besonders reizvoll ist das für ihn typische Einflechten von Parlando-artigen bzw. tatsächlich gesprochenen, gehässig ausgespuckten oder geröchelten Textstücken, die seinen Rollen zusammen mit der schauspielerisch beeindruckenden Darstellung eine faszinierende Plastizität und Glaubhaftigkeit geben.

Eine großartige Leistung zeigte auch der US-amerikanische Tenor Matthew Polenzani, der sich mit Inbrunst der Rolle des Hoffmann verschrieb und trotz der langen Aufführungsdauer von 4 Stunden (einschließlich zweimal 25 Minuten Pause) in Nichts nachließ, weder stimmlich noch darstellerisch. Auch er vermochte es, wie Benjamin Bernheim, seine Stimme im Forte zu einem schönen Farbenspektrum zu öffnen und weit in den Raum hinein strahlen zu lassen. Die größte Überraschung des Abends war für mich Jana Kurucová, die als Muse und Nicklausse den anderen Beteiligten das Wasser reichen konnte. Ihr strahlkräftiger Mezzo füllte problemlos das Haus, im Zwiegesang mit Hoffmann im Antonia-Akt sowie am Ende der Oper gelangen ihr berührende Töne, die eine zukünftige Dalila erahnen lassen. Warum man Kurocová bei der Barcarole im 4. Akt allerdings kaum wahrnahm, vermag ich nur zu vermuten, vielleicht liegt der Beginn mit Belle nuit für die Sängerin einfach zu tief, um noch eine entsprechende Klangstärke erzeugen zu können.

Zu Pretty Yende: Wie sie nicht nur mit ihrer Bühnenaura, sondern auch mit ihrem prächtigen Spiel den Frauenrollen Leben einhauchte, war fast schon so überwältigend, wie ihre goldfarben klingende Sopranstimme. Wie sie aber die Arie der Olympia im zweiten Akt mit Zwischentönen, Seufzern und Kieksern neben der imponierenden Kolaraturfähigkeit der Stimme aufwertete, ging über den sonst üblichen, fast mechanisch anmutenden Schöngesang deutlich hinaus. Im Antonia-Akt hätte sie das Eingangslied von der Taube (Elle a fui, la tourterelle) für mein Empfinden mit etwas weniger Vibrato, also liedhafter singen können. Das gelingt den großen Stimmen wohl weniger, wie man es auch auf YouTube bei anderen Sängerinnen zu hören ist. Wie sich Yende danach aber in die Rolle der Antonia hineinwirft und mit ihrem Gesang der herzkranken, sich wider besseren Wissens physisch verausgabenden Tochter des Rats Crespel Leben einhaucht, ist bezüglich der gesanglichen Interpretation nur mit E.T.A. Hoffmann (Rat Krespel, 1816) zu beschreiben: Nie hatte ich eine Ahnung von diesen lang ausgehaltenen Tönen, von diesen Nachtigallwirbeln, von diesem Auf- und Abwogen, von diesem Steigen bis zur Stärke des Orgellautes, von diesem Sinken bis zum leisesten Hauch. E.T.A. Hoffman muss eine Sängerin wie Pretty Yende vor Augen bzw. Ohren gehabt haben, als er vor nunmehr 207 Jahren seine Erzählung Rat Krespel veröffentlichte.

Han Kim (Le Capitaine des Sbirres), Dongwon Kang (Nathanaël), Ida Aldrian (La Mère), Hubert Kowalczyk (Maître Luther, Crespel), Jana Kurucová (La Muse, Nicklausse), Erwin Schrott, Matthew Polenzani, Kent Nagano (musikalische Leitung des Philharmonischen Staatsorchesters), Pretty Yende sowie Andrew Dickinson (Andrès, Cochenille, Frantz, Pitichinaccio)

Leider war die Rolle der Signora Angela, Antonias Mutter, von Offenbach nur mit La Mère bezeichnet, mit Ida Aldrian nicht stark genug besetzt. Aldrians Stimme klang recht schmal und es fehlte ihr die notwendige Stimmkraft, um mit Pretty Yende in Gleichklang zu gelangen. Hubert Kowalczyk sang einen ausgezeichneten Rat Crespel, Dongwong Kang einen schönstimmigen Nathanaël. An Andrew Dickinsons gesanglicher Leistung als u.a. Frantz war nichts auszusetzen. Eher missfiel mir sein etwas überzogenes Spiel.

Insgesamt war es eine vom Publikum begeistert aufgenommene gesangliche Sternstunde in der Hamburgischen Staatsoper, nur Kent Nagano musste anfangs einzelne Missfallensbekundungen hinnehmen.

Im Vergleich mit den Vorjahren hat das Niveau der Gesangsleistungen an der Hamburgischen Staatsoper weiter zugelegt. Von den von mir in der jetzt abgeschlossenen Opernsaison gehörten 20 Aufführungen erreichten 7 den Spitzenwert einer internen Bewertungen von 10/10 Punkten, im Mittel der 20 Aufführungen wurden 8,5 Punkte erreicht. Das liegt nur noch knapp unter den während der Intendanzen Everding, Dohnányi und Liebermann erreichten Werten. Welche Sängerinnen und Sänger beeindruckten in der Saison 2022/23 mit herausragenden, erinnerungswürdigen Leistungen (zeitliche Reihenfolge): Elbenita Kajtazi (Manon, Micaëla, Liù, Mimì), Benjamin Bernheim (Des Grieux), Maria Kataeva (Carmen), Elisabeth Teige (Leonore), Tomislav Mužek (Rodolfo), Kartal Karagedik (Marcello), Katharina Konradi (Musetta), Johanni van Oostrum (Chrysothemis), Camilla Nylund (Katerina Ismailowa), Dovlet Nurgeldiyev (Lenski, Walther von der Vogelweide), Alexander Tsymbalyuk (Gremin), Marcelo Puente (Cavaradossi), Regula Mühlemann (Donna Fiorilla), Pretty Yende (Gilda, Olympia etc.), George Petean (Simon Boccanegra), Alexander Vinogradov (Jacopo Fiesco), Selene Zanetti (Amelia Grimaldi), Klaus Florian Vogt (Tannhäuser), Matthew Polenzani (Hoffmann), Erwin Schrott (Lindorf etc.), Jana Kurucová (Nicklausse).

Am Sonntag, den 10. Juni gibt es übrigens noch eine, die vorerst letzte Vorstellung von Hoffmanns Erzählungen, es sind noch wenige Karten im Verkauf. Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall.

Dr. Ralf Wegner, 8. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jacques Offenbach, Les Contes d’Hoffmann Staatsoper Hamburg, 29. Mai 2023

Jacques Offenbach, Les Contes d’Hoffmann (B-Premiere) Staatsoper Hamburg, 6. September 2021

Jaques Offenbach, La Périchole Museumsquartier Halle E, 20. Jänner 2023

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