Foto: Maxim Schulz (c)
ElbphilharmonieHamburg, 7. Juni 2018
Carl Nielsen, Helios-Ouvertüre op. 17
Dimitrij Schostakowitsch, Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77
Jean Sibelius, Sinfonie Nr. 5 Es-Dur op. 82
NDR Elbphilharmonie Orchester
Jukka-Pekka Saraste, Dirigent
Leonidas Kavakos, Violine
von Leonie Bünsch
Als in Hamburg um kurz nach 20 Uhr die Sonne bereits langsam unterzugehen beginnt, geht in der Elbphilharmonie musikalisch die Sonne auf. In der Helios-Ouvertüre vertont der dänische Komponist Carl Nielsen seine Eindrücke der Ägäis und nennt sein Stück eine „Ouvertüre zum Lob und Preis der Sonne“. Das Stück beginnt im Morgengrauen, ganz leise signalisieren die Kontrabässe mit langen Liegetönen, dass sich etwas zu regen beginnt. Mehr und mehr Instrumente stoßen hinzu. Und auch wenn der Hornist leider seinen allerersten Einsatzton verfehlt, hört man doch in dem warmen, satten Ton der Hörner die aufgehende Sonne.
Jukka-Pekka Saraste scheint tiefenentspannt zu sein. Auch während sich das Stück der Mittagszeit nähert und die fröhlichen Violinen den Höhepunkt signalisieren, lässt sich der Dirigent mit seinen minimalen, jedoch präzisen Bewegungen nicht aus der Ruhe bringen. Und schon bald hört man die Sonne wieder untergehen, das Orchester verstummt nach und nach, und während Nielsens Tag an der Ägäis sich dem Ende neigt, ist es im Großen Saal der Elbphilharmonie atemberaubend still. Erst einige Sekunden nachdem Saraste den Taktstock senkt, wagt der erste Zuhörer zu klatschen.
Nach einer kurzen Umbaupause betritt der Solo-Violinist des Abends den Saal: Leonidas Kavakos schreitet bescheiden neben Saraste auf die Bühne, umarmt spontan die ersten Geigen und scheint sich einfach nur zu freuen, jetzt hier sein zu dürfen. Mit Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 tut sich nun eine völlig neue Welt auf. Das 1948 vollendete Werk, das zunächst vom sowjetischen Staat verboten worden war und daher erst 1955 uraufgeführt wurde, ist Sinnbild für Leid und Unterdrückung des Komponisten.
Bereits der 1. Satz beginnt schwermütig, das Tamtam unterstreicht die musikalische Todessymbolik, aus der Schostakowitsch keinen Hehl zu machen scheint. Tatsächlich wirken alle vier Sätze des Konzerts wie ein verstecktes Requiem. So fügen sich die rauen Klänge der Solovioline optimal in die entsprechende Klangwelt ein. Kavakos scheint ganz in seiner Welt zu sein, als ob er das Schicksal des Komponisten noch einmal passiv durchleben würde.
Als es im 2. Satz zu Anspielungen auf jüdische Folklore kommt (vermutlich Schostakowitschs Art, sich gegen Stalins Antisemitismus aufzulehnen), kommt das erste Mal Leben in Saraste. Das tänzerische Scherzo, das immer schneller und virtuoser wird, bietet einen fulminanten Schluss, bei dem sich der ein oder andere Konzertbesucher sicherlich ein „Bravo“ verkneifen muss. Das Klatschen zwischen den Sätzen, das dagegen leider nicht ausbleibt, wird vom Dirigenten lediglich mit einem resignierten Schulterzucken quittiert.
Aus dem Orchester sticht eine ansonsten völlig unscheinbare Bratschistin hervor – weniger durch ihr Spiel als vielmehr durch ihre Mimik. Sie scheint die ganze emotionale Kraft des Stückes auf ihrem Gesicht abzubilden: von freudiger Verzückung im Scherzo bis zu Trauer und Schmerz, die nun wieder einkehren. In der umfangreichen Solokadenz im 3. Satz hat der Komponist noch einmal alle Expressivität hineingelegt. Hier zeigt sich nun vollends das Talent von Kavakos, bei dessen Spiel man weder weggucken noch weghören kann, ganz so als würde man an seinen Lippen hängen, während er das Schicksal des Komponisten nacherzählt.
Kavakos schöpft aus der vollen dynamischen Bandbreite, die in diesem Konzertsaal so wunderbar zum Tragen kommt. Bei den hohen, im perfekten pianissimo gespielten Tönen, ganz ohne Vibrato, möchte man die Luft anhalten. Nur schade, dass viele im Publikum diese Gelegenheit nutzen, um ihrem Hustenreiz nachzugeben. Die Solo-Passage wird nun immer hektischer, immer lebhafter – Kavakos kann seine Virtuosität voll ausleben und führt das Orchester in den finalen 4. Satz. Die anschließenden Beifallsstürme hat er sich mehr als verdient.
Nach der Pause eröffnet sich erneut eine neue Welt. Waren vorher noch tief emotionale Klänge zu hören, die eindeutig eine Geschichte erzählten, versucht Jean Sibelius uns mit seiner 5. Sinfonie in die Welt der absoluten Musik zurückzuführen. Zwar gibt der Komponist zu erkennen, dass er bei seinem Werk von 16 Schwänen inspiriert wurde, die über dem finnischen Tuusula-See im Sonnenuntergang verschwanden, darüber hinaus negiert er jegliche poetische Idee im Zusammenhang mit seiner Sinfonie. Beim Hören der breiten, satten Orchesterklänge fällt es schwer, sich nicht die dazu passenden finnischen Weiten vorzustellen und sich stattdessen auf die formalen Strukturen zu konzentrieren, auf die Sibelius so viel Wert legte.
Fehlende markante Themen weichen satten Klangflächen, die bereits im ersten der drei Sätze zu einem Höhepunkt streben, die den Eindruck erwecken, das Stück neige sich bereits dem Ende, doch dem ist nicht so. Dass nach so einem Satzende geklatscht wird, ist bedauerlich, aber kaum noch zu verdenken. Hier wird es allerdings schnell von lautem Zischen unterbunden. Saraste, der die Sinfonie seines Landsmannes ohne Noten dirigiert, scheint sich davon kaum aus der Ruhe bringen zu lassen. Er bleibt in seinem Element, die Musiker gezielt zu leiten und auf den nächsten Höhepunkt hinzuführen.
Wieder wird die Finalstimmung des 1. Satzes aufgegriffen, dieses Mal – am Ende des 3. Satzes – scheint es ja auch zu passen. Die pathetische Apotheose lässt ein Finale erwarten, das die Zuhörer von ihren Stühlen reißt. Doch Sibelius führt die Hörer in die Irre. Mehrere Orchesterschläge beenden das Werk, zwischen denen die Pausen so lang sind, dass man das Finale der Sinfonie kaum noch ernst nehmen kann. Da es dem NDR Elbphilharmonie Orchester leider nicht gelingt, gleichzeitig einzusetzen, verstärkt sich der groteske Eindruck immens. Zurück auf den Stühlen gelassen werden verdutzte Zuhörer, die kaum fassen können, dass dies das Ende des Konzertes ist. Als sich die Erkenntnis jedoch breitmacht, beginnt der ersehnte Schluss-Applaus – erst zögerlich, dann scheint der Saal zu realisieren, dass hier gerade ein absolut hörenswerter, kurzweiliger und vielfältiger Konzertabend stattgefunden hat.
Leonie Bünsch, 8. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de