Fotos: © Karl und Monika Forster
Georges Bizet, Die Perlenfischer (Les Pecheurs de Perles)
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, 19. Januar 2019
Musikalische Leitung, Giuliano Betta
Inszenierung, Manuel Schmitt
Bühne, Bernhard Siegl
Kostüme, Sophie Reble
Licht, Patrick Fuchs
Dramaturgie, Stephan Steinmetz
Leïla, Dongmin Lee
Nadir, Stefan Cifolelli
Zurga, Piotr Prochera
Nourabad, Michael Heine
Kind, Paula Schiefele
Taucher, Michael Bittinger
Chor, Alexander Eberle
Chor und Extrachor des MIR
Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen
von Ingo Luther
Wenn es die Nachricht über eine Opernproduktion aus dem tiefsten Ruhrgebiet bis in den Kulturteil des Berliner Tagesspiegels schafft („Der Tod leuchtet blau“, Tagesspiegel vom 7.01.2019), dann müssen dort im Revier spannende Dinge vor sich gehen! Höchste Zeit für klassik-begeistert.de sich einen eigenen Eindruck von „Die Perlenfischer“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen zu machen.
Ob Hindemiths „Mathis der Maler“, Weinbergs „Die Passagierin“ oder nun „Die Perlenfischer“ von Georges Bizet – im Konkurrenzkampf mit der unmittelbaren Nachbarschaft in Essen, Dortmund, Wuppertal und Hagen setzt man in Gelsenkirchen gerne auf weniger häufig aufgeführte Werke, die nicht dem leicht verdaulichen „Repertoire-Main-Stream“ entsprechen. Dieses Konzept scheint aufzugehen: Auch in der bereits fünften Aufführung von „Die Perlenfischer“ seit der Premiere am 22. Dezember 2018 bleiben nur ein paar vereinzelte Plätze im 1.004 Zuschauer fassenden Großen Haus am Kennedyplatz unbesetzt.
Manuel Schmitt ist ein Junge aus dem Ruhrgebiet. Mit seinen 31 Jahren zählt der Regisseur aus dem benachbarten Oberhausen zu den Newcomern der Szene. Wenn er an seine Gelsenkirchener Perlenfischer anknüpfen kann, wird sein Name schnell zu einem Begriff für erstklassig umgesetztes, spannend inszeniertes Musiktheater werden! Kein Wunder, dass seine Interpretation des frühen Bizet-Werkes in der Teamarbeit mit Bernhard Siegl (Bühne), Patrick Fuchs (Licht), Stephan Steinmetz (Dramaturgie) und Sophie Reble (Kostüme) bereits überregionale Aufmerksamkeit erfährt.
Menschenverachtende Arbeitsbedingungen und die rücksichtlose Ausbeutung von Umwelt und Mensch durch skrupellose Unternehmen sind das Kernthema, welches Manuel Schmitt in den Fokus seiner Arbeit rückt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um den Bergbau, die Produktion von Textilien oder eben die Perlenfischerei handelt. Die Kulisse aus einem schäbigen Wellblech-Dorf und angedeuteten Fördertürmen steht sinnbildlich für die Knochenarbeit von Menschen, die um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen und unter grausamen Bedingungen ihrer schlecht bezahlten Tätigkeit nachgehen. Das Handwerk der Perlenfischerei wird auf optisch eindrucksvolle Weise angedeutet, indem hinter einem transparenten Vorhang zu Beginn und am Ende ein Taucher (Michael Bittinger) mit verblüffend echt wirkenden Schwimmbewegungen die lebensgefährlichen Tauchgänge auf der Suche nach den begehrten Perlen simuliert.
Die eigentliche Geschichte der Perlenfischer ist schnell erzählt: Die beiden Freunde Zurga und Nadir treffen sich nach vielen Jahren im Camp der Perlenarbeiter wieder. Diese haben soeben Zurga zu ihrem Anführer gewählt. Nadir und Zurga waren einst in das Mädchen Leïla verliebt und im Interesse ihrer Freundschaft schworen beide, für alle Zeiten dieser Liebe zu entsagen. Nun aber werden sie von ihrer Vergangenheit eingeholt – die Hohepriesterin, die im Tempel für das Wohlergehen der Arbeiter und um göttlichen Beistand beten soll, ist niemand anderes als dieses Mädchen Leïla! Obwohl ihr strengstens verboten ist, ihren Schleier zu lüften und sich den Männern zu zeigen, erkennen sich Leïla und Nadir im Tempel wieder und entbrennen erneut in leidenschaftlicher Liebe zueinander. Zurga ist zutiefst enttäuscht und verzehrt sich in blindem Hass. Nun steht er vor der schwersten Entscheidung seines Lebens: Folgt er den Regeln der Arbeiterschaft und bestraft die Liebenden mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen oder folgt er dem Gesetz der Liebe und verrät damit die Gemeinschaft. In den Flammen des finalen Infernos lässt er Nadir und Leïla in eine gemeinsame Zukunft fliehen und bleibt selbst im Feuer zurück. Zuvor hatte er entdeckt, dass die Kette um Leilas Hals die gleiche ist, die er vor langer Zeit dem Mädchen schenkte, das ihn einst als Flüchtling aufnahm und damit vor dem Tod rettete.
Hatte Wim Wenders bei seiner ersten Regiearbeit von „Die Perlenfischer“ in der Berliner Lindenoper noch versucht, die romantische Dreiecksgeschichte der Hautpersonen in den Mittelpunkt zu stellen, erzählt Manuel Schmitt die Geschichte von Leïla, Nadir und Zurga eingebettet in den verzweifelten Aufschrei der Arbeiter nach besseren Arbeitsbedingungen. Es ist ein Kunstgriff, wie schlüssig und logisch Schmitt die Videosequenzen mit den Erzählungen von pakistanischen Müttern, deren Kinder bei dem Brand einer Textilfabrik im September 2012 ums Leben kamen, in das Bühnengeschehen einbettet. Auf der Bühne halten die Perlenarbeiter Porträtbilder der Opfer dieses Brandes in ihren Händen. Zusammen mit dem entrollten Banner mit der Aufschrift „I don’t die for your pearls“ ein verzweifelter Aufschrei gegen die menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen und die brutale Ausbeutung der „Ressource Mensch“. Ein starkes Bild: Sinnbildlich für die Verkommenheit der kapitalistischen Moral und die brutale Unterdrückung der Arbeiterschaft landet die metallische Weltkugel, die zu Beginn des Bühnengeschehens über dem Arbeiterdorf hängt, am Ende auf dem für Leïla und Nadir vorbereiteten Scheiterhaufen.
Die musikalische Umsetzung der Geschichte gelingt dem Musiktheater im Revier auf beeindruckende Weise. In dieser Produktion dominieren die leisen Töne: Keiner der Protagonisten versucht den anderen stimmlich zu übertrumpfen – hier wird sanft, voller Lyrik und Melancholie und trotzdem mit Leidenschaft gesungen:
Piotr Prochera zeichnet mit seinem warmen, schlanken und wohlklingenden Bariton einen in seiner Gefühlswelt zwischen Liebe und Rache komplett zerrissenen Arbeiteranführer Zurga, der am Ende seinen Hass überwinden kann und den beiden Liebenden in berührender Weise ihre Freiheit schenkt. Gelsenkirchen darf sich glücklich schätzen, einen solch ausdrucksstarken Sänger im Ensemble zu haben, der vom Melot im Tristan bis hin zum Don Giovanni eine gleichbleibend hohe Qualität abliefert.
Der Belgier Stefan Cifolelli ist kein Tenor, der alles um ihn herum in Grund und Boden singt. Sein Nadir verkörpert voller Zärtlichkeit und Authentizität die reine, unschuldige Liebe zu Leïla, die sich in Wahrheit als ein lebensgefährliches Spiel mit dem Feuer entpuppt. Seine Stimme harmoniert im berühmten „Perlenfischer-Duett“ wunderbar mit dem Bariton von Piotr Prochera – beide singen auf berührende Weise miteinander, nicht gegeneinander. Cifolelli legt seine ganze Sehnsucht und sein Verlangen in die berühmte Tenor-Arie des Nadir („Je crois entendre encore“) und erklimmt mit seiner feinen Technik jede Höhe.
In den Kontext der „leisen Stimmen“ passt auch der lyrische, mädchenhafte Sopran der jungen Südkoreanerin Dongmin Lee. Mit betörendem Charme, einem Hauch von Naivität und ohne Pathos verkörpert sie die Figur der Leïla, die in ihrer zugedachten Rolle als Hohepriesterin und Heilsbringerin gnadenlos scheitert und am Ende nur noch die aufopferungsvoll und mit jeder Faser ihres Herzens liebende Frau darstellt. Sollte ihre Stimme mit den Jahren an Volumen und Intensität gewinnen, wächst in Dongmin Lee ohne Zweifel eine große Sängerin heran. Im Schlussapplaus erreicht sie die höchsten Dezibel-Werte.
Michael Heine als Dorfältester Nourabad komplettiert mit seinem sehr gepflegten, kultivierten Bass und konturenreiner Tiefe das homogene, hochwertige Gesamtbild des Sängerensembles.
Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier (Leitung: Alexander Eberle) untermalen die Geschichte der Perlenfischer nicht: Sie sind die Perlenfischer! Ohne in der Lautstärke zu überdrehen, strahlt der Chor eine dominante, charakterstarke Bühnenpräsenz aus, die jederzeit beeindruckt. Die Regie gibt dem Chor ohnehin die Aufgabe, das Geschehen aktiv mit zu erzählen und nicht nur zu flankieren.
Das Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen fungiert als lyrischer, sachlicher Erzähler. Unter der Leitung des Italieners Giuliano Betta dominieren auch hier die leisen Töne – niemals besteht die Gefahr, dass die Sänger aus dem Graben „überflutet“ werden. Jedes gesungene Wort bleibt verständlich. Betta versteht es hervorragend die enorme PS-Kraft seines Orchester-Motors zu zügeln und lediglich das sanfte Schnurren der Aggregate aus dem Graben zu zaubern. So bringt er sämtliche Feinheiten der Partitur zum Leuchten und verhilft den feinen Stimmen zu ihrer ungetrübten Entfaltung.
Es ist ohne Frage eine Bereicherung, dass es „Die Perlenfischer“ national wie international wieder häufiger auf die Spielpläne der Opernhäuser schaffen. Bizet ist eben nicht nur Carmen – ein gutes Jahrzehnt liegt zwischen der Uraufführung der beiden Werke. Eine Zeit, in der sich die Entwicklung und die musikalische Reife eines Komponisten wunderbar nachvollziehen lassen. Libretto und Handlung der Perlenfischer sind weit weg von jeglicher Perfektion – aber in einer guten Umsetzung ergeben die musikalischen Filetstücke des Werkes und die Einbettung der tragischen Dreiecksgeschichte in die grausame Arbeitswelt der Menschen allemal ein paar zauberhafte Stunden Musiktheater!
Der Abend zeigt mehr als deutlich: Es kommt nicht von ungefähr, dass „Die Perlenfischer“ in Gelsenkirchen weit über die Region hinaus Beachtung finden. Ebenfalls kein Wunder, dass sich weit und breit keine negative Kritik zu dieser Interpretation durch das Musiktheater im Revier finden lässt. Auch das Publikum an diesem Abend feiert alle Beteiligten mit langanhaltendem, begeisterten Beifall und zahllosen Bravo-Rufen.
Eine schlüssig erzählte Geschichte ohne jede Form von Kitsch, eine sehenswerte und spannende Inszenierung mit sehr viel Liebe zum Detail, dazu ein glückliches Händchen bei der Besetzung der Schlüsselrollen und eine hochklassige musikalische Aufbereitung mit einem Top-Orchester. Was will der Opernfreund mehr?
In dieser Saison sind „Die Perlenfischer“ noch am 27. Januar, 17. Februar, 10. und 24. März und am 27. April im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen zu erleben. Wer nicht hingeht, hat etwas verpasst….!
Ingo Luther, 21. Januar 2019
für klassik-begeistert.de
ich habe diese Oper vor vielen Jahren (konzertant m. Joh Wildner) gesehen. Ich war sehr ergriffen von dieser wunderschönen Musik. Leider habe ich wegen Krankheit die Aufführungen in dieser Saison verpasst. Wird sie noch einmal ins Programm genommen? Ich mag den Bariton sehr.
Margrit Krause-Thimm