"Guillaume Tell“ am Theater an der Wien:
Ein Aufruf zur Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – aller Menschen

Gioachino Rossini, Guillaume Tell, Theater an der Wien, 16. Oktober 2018

Foto: © Moritz Schell
Guillaume Tell, Gioachino Rossini, Theater an der Wien, 16. Oktober 2018

von Jürgen Pathy

Der Nationalheld der Eidgenossen lockt die Opernfans aus der warmen, spätsommerlichen Musikhauptstadt Wien in die verschneiten Berge und Täler der Schweiz: Trotz durchwachsener Premieren-Kritiken erntet Gioachino Rossinis „Guillaume Tell“ im gut besuchten Theater an der Wien frenetischen Schlussapplaus – ob der Inszenierung des deutschen Regisseurs Torsten Fischer oder der überwiegend großartigen Besetzung wegen, sei einmal dahingestellt.

John Osborn (Arnold Melchthal), Statisterie des Theaters an der Wien © Moritz Schell

Um Rossinis letzte Oper (1829) aussichtsreich auf die Beine zu stellen, erfordert es einen lyrischen Tenor der Extraklasse, der die schwierige, große Partie des Arnold Melcthal aus dem Effeff beherrscht: Neben Juan Diego Flórez zählt hierzu heutzutage vermutlich nur der amerikanische Tenor John Osborn, 46, der diese Partie auch schon 2016 in einer Neuproduktion an der New Yorker Met gesungen hat. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, bei denen die Stimme beklemmt wirkt, löst sich der Frosch im Hals, und Osborn beeindruckt mit agiler, ausdrucksstarker Gesangskunst und sicheren, schwindelerregenden – wenn auch vereinzelt forcierten – Höhen. Mit einer ausgezeichneten Mittellage ausgestattet und einer feinen Phrasierungskunst der Rezitative begnadet, verströmt der Belcanto-Spezialist auch viel Schmelz und erobert die Herzen der Besucher, die dem Sänger am Ende tobend zu Füßen liegen.

Weniger überzeugend – vor allem darstellerisch – präsentiert sich Christoph Pohl, 42, in der Titelpartie des Guillaume Tell: So beeindruckend auch die multimediale Projektion des obligatorischen Armbrustschusses wirken mag – das Haupt des Sohnes (Jemmy) prangt von einer weißen Leinwand –, so unbedarft wirkt die Präsenz des deutschen Sängers auf der Bühne. Stimmlich verfügt Pohl, seit 2005 Ensemblemitglied der Semperoper Dresden, jedoch über eine ansprechende, tragfähige mittlere und tiefe Lage, die von dieser Heldenpartie auch verlangt wird. In Summe ein solider Schweizer Freiheitskämpfer – nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Beeindruckender durchdringen die tiefen und mittleren Lagen der beiden „schwarzen“ Stimmen das Schweizer Land:  Jérôme Varnier als Melcthal und der Kroate Ante Jerkunica als Gesler, erinnern, sowohl aufgrund deren großgewachsener Statur als auch deren Stimmfärbung, an den hervorragenden seriösen Bass Stefan Czerny. Nur in der hohen Lage kann Ante Jerkunica nicht mithalten.

Trotz zweier schmerzender Ausrutscher in der hohen Lage, versteht es der russische Tenor Anton Rositskiy, die Partie des besoffenen Fischers Ruodi ohne weitere schwerwiegende Verletzungen übers Glatteis zu manövrieren.

Besonderes Lob gebührt der glaubwürdigen Darstellung des Hirten Leuthold, der einen Soldaten Geslers erschlagen hat und blutüberströmt mit einer Axt bewaffnet in das Geschehen platzt: Diese kleine Partie scheint dem polnischen Hünen Lukas Jakobski wie auf den Leib geschneidert – sowohl darstellerisch als auch stimmlich ein überzeugender Charakterbariton. Und auch der französische Bariton Edwin Crossley-Mercer gefällt als Walter Fürst, der in dieser Inszenierung ständig irgendwo über die Bühne schleicht.

In der Summe überzeugender präsentieren sich dennoch die Damen dieser Grand Opéra, die den Herren an diesem Abend in technischer Hinsicht und Ausdrucksstärke, trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit, die Show stehlen.

© Moritz Schell

Einer Naturgewalt gleicht vor allem der heimliche Star des Abends: die Kanadierin Jane Archibald, 41, als Prinzessin Mathilde von Habsburg. Die Sopranistin verfügt über eine außergewöhnliche Stimme, die in der Lage ist, den Raum scheinbar mühelos bis in die letzten Ecken mit strahlendem Glanz zu überziehen. Eine Stimme, die trotz der reiferen Stimmfarbe und dem Fokus auf dramatische Partien, selbst bei der kurzen Koloratureinlage für aufsehenerregendes Staunen sorgt. Mit ihren lyrischen Fähigkeiten, dem großen Volumen und der dramatischen Gestaltungskraft, scheint die Kanadierin eine Idealbesetzung für diese jugendlich dramatische Partie.

Auch die Schweizerin Marie-Claude Chappuis weiß ihren dramatischen Mezzo überzeugend einzusetzen und überstrahlt als Hedwige ihren Gatten Guillaume Tell. Dessen Sohn verkörpert die junge Osttirolerin Anita Giovanna Rosati, deren Partie als Jemmy, sowohl darstellerisch als auch gesanglich bei der jungen Soubrette in den besten Händen liegt.

Musikalisch fröstelt es an diesem Abend. Nicht nur in der Umgebung des Schweizer Vierwaldstättersees weht ein eisiger Wind, sondern auch aus dem Orchestergraben des charmanten Wiener Opernhauses dringt unterkühlte Luft: Der junge Dirigent Diego Matheuz, 34, vermag den Wiener Symphonikern nicht das nötige Verve zu entlocken, um sich der Begeisterung Rossinis mit Fleisch und Blut hingeben zu können. Von der blühenden Anmut und dem sinnlichen Schmelz, zu dem das erstklassige Wiener Ensemble bei entsprechender Stabführung jederzeit fähig ist, fehlt an diesem Abend leider allzu oft jegliche Spur.

Beinahe last, not least: Die Damen und Herren des Arnold Schoenberg Chors – gesegnet darf sich das Haus schätzen, das auf einen der besten Chöre der Welt zurückgreifen kann!

Die Kritiken der einschlägigen Medien bezüglich der martialischen Inszenierung des deutschen Regisseurs Torsten Fischer sind durchwachsen ausgefallen. Unverständnis breitet sich aus. Einfache Soldaten in modernen Tarnanzügen gepaart mit NS-Führungsoffizieren mögen auf den ersten Blick zeitgeschichtlich absurd erscheinen, doch die Message ist offensichtlich: Torsten Fischer symbolisiert den aktuellen schleichenden Prozess der rechtskonservativen Unterwanderung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – aller Menschen. Das gleißend-helle Licht der Videowand gegen Ende hin ist ein deutlicher Weckruf: Wacht auf!

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 18. Oktober 2018,
für klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de

Diego Matheuz, Musikalische Leitung
Torsten Fischer, Inszenierung und Licht
Herbert Schäfer und Vasilis Triantafilopoulos, Ausstattung
Franz Tscheck, Licht
Karl Alfred Schreiner, Choreographie
Jan Frankl, Video
Herbert Schäfer, Dramaturgie

Christoph Pohl, Guillaume Tell
John Osborn, Arnold Melcthal
Jane Archibald, Mathilde
Marie-Claude Chappuis, Hedwige
Anita Rosati, Jemmy
Jérôme Varnier, Melcthal
Anton Jerkunica, Gesler
Edwin Crossley-Mercer, Walter Fürst
Anton Rositskiy, Ruodi
Sam Furness,
Rodolphe
Lukas Jakobski,
Leuthold

Wiener Symphoniker, Orchester
Arnold Schoenberg Chor
 (Leitung: Erwin Ortner)

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